Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
einfach bloß um ausrangierte Waren zu handeln, er benimmt sich gerade so, als wäre er auf großer Schatzsuche.
Ein paar Verkäufer ziehen an ihren Zigaretten und verfolgen mich mit ihren Blicken. Vielleicht halten sie mich ja für eine, die sich unvermittelt etwas schnappt - ein Armband oder eine raubkopierte DVD - und dann die Beine in die Hand nimmt. Innerlich rümpfe ich die Nase über all jene, die mich lüstern anstarren und sich fragen, was ich wohl auf diesem trüben Flohmarkt suche, wo ich mir ja ganz offensichtlich keine Waren anschaue.
»Sst, sst, sst«, zischt ein Mann, als ich an ihm vorbeigehe, aber ich ignoriere ihn. Ich folge nur Jays dunklem Hinterkopf, während er sich seinen Weg durch die Menschenmenge auf dem Flohmarkt bahnt. Es ist gar nicht so leicht, ihm auf den Fersen zu bleiben, denn er trägt heute dunkle Sachen. Dabei zieht er sich sonst eigentlich ziemlich gut an. Er achtet auf sein Äußeres und sieht immer gepflegt aus. Aber heute wirkt er, als habe er sich schon eine ganze Weile nicht mehr rasiert. Mit seinen Stoppeln, seiner Mütze und seinem schwarzen Sweatshirt gleicht Jay den übrigen jungen Männern, die über den Flohmarkt streifen. Flüchtig sehe ich seine Turnschuhe, die schmutzig sind. Auch das ist nicht typisch für ihn. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, beide weiße Converse All Stars getragen haben. Seine waren strahlend weiß, während meine ziemlich verdreckt waren.
Das ist auch immer noch so, denke ich, während ich an mir hinunterblicke. Das sind die einzigen Schuhe, die ich mitgenommen habe, als ich von den Marquets abgehauen bin. Ich trage sie im Moment die ganze Zeit.
Ich erlaube mir, Jay ein Stückchen näher zu kommen. Ich kenne diese Grübchen, seine wissenden dunklen Augen. Er sieht so niedergeschlagen aus, so viel trauriger, als ich erwartet habe. Und gleichzeitig wunderschön. Als Cory einen weiteren Tisch mit hoch aufgestapelten Computerteilen unter die Lupe nimmt, stellt sich Jay lässig neben ihn. Seine traurigen Augen scheinen sich nicht mehr als nur halb zu öffnen. Sind sie vom Weinen geschwollen? Wie viel Herzschmerz habe ich ihm verursacht?
Und doch, trotz seiner Trauer - wenn es denn Trauer ist -, übt er nach all diesen Wochen eine geradezu magische Anziehung auf mich aus. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Gefühle schon früher so stark gewesen sind. Dass meine Handflächen so geschwitzt haben, wenn ich ihn nur von Weitem gesehen habe.
Am liebsten würde ich ihn berühren. Sein Gesicht in meine Hände nehmen, über die dunklen Haare auf seinen Unterarmen streichen. Wie gern würde ich die Wärme seiner Haut auf der meinen spüren.
Die Person, die mich zuletzt berührt hat, auch wenn sie nur meinen Arm gedrückt hat, ist Sunny aus dem Cherbourg-Hostel gewesen. Ihre Band stieg am Omaha Beach, wie die Alliierten den Strandabschnitt nannten und wo die Kriegsschiffe landeten, um damals im Zweiten Weltkrieg Frankreich zu befreien, aus dem Van. Sie sah mich an und lächelte mitfühlend: »Viel Glück.« Ich wusste, dass sie mir nur helfen wollte, aber sie riss sich auch nicht gerade ein Bein aus. Sie ließ mich gehen, bevor sie mich darum bitten musste.
Als ich Jay nach so langer Zeit wiedersehe und anschaue, überkommen mich Zweifel. Er sieht nicht nur gut aus. Jay ist sexy. Ob er mich überhaupt noch will?
Ich frage mich, ob er mich je gewollt hat oder ob ich mir das vielleicht nur eingebildet habe.
Aber ich habe an Jay geschrieben, fällt mir ein. Ich habe ihm geschrieben, nachdem ich abgehauen war, und er hat mir immer geantwortet und mich gebeten, ihm zu sagen, wo ich sei. Wie er mir helfen könne. Nein, er hat mich nicht vergessen.
Ich weiche einer französischen Familie aus, die einen Tisch voll mit Rührgeräten und anderen Küchenutensilien genauer unter die Lupe nimmt und sich dabei streitet. Sie verstellen den gesamten Platz vor dem Tisch, während sie sich darüber beugen und in den Haaren liegen, weil sie sich wegen eines Kaufs uneinig sind. Es ist heute seltsam schwül-warm. Die Verkäufer müssen die Planen über ihren Ständen einrollen, um wenigstens ein bisschen frische Luft zu bekommen. Die ganze Atmosphäre hier hat etwas Träges, Langsames, so als befänden wir uns im Inneren eines Ballons, dessen Luft ganz, ganz langsam entweicht und dessen Gummihäute sich immer näher und näher zusammenziehen. Die bummelnden Menschen ziehen ihre Jacken aus und tragen sie in der
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