Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
Auch wenn ich weiß, dass es nicht ewig so weitergehen kann.
Jay streichelt mir über das Gesicht und bringt mich, als ich noch etwas sagen will, zum Schweigen. Schließlich lächle ich und küsse seine Hand. »Vielen Dank.«
* * *
Vor dem Öffnen des Klubs laufe ich noch etwas in Pigalle herum und ertappe mich dabei, wie ich die Touristen, die Freier und die Immigranten, die Handyhüllen und Raubkopien von CDs und DVDs verkaufen, beobachte und mich dabei urplötzlich total nach Annabel sehne, trotz allem, was passiert ist. Zwischen meiner einen Socke und der Innensohle meines Schuhs befindet sich der Lohn mehrerer Wochen Arbeit. Geld, das ich angespart habe, weil ich nicht weiß, wie oder wann ich es einmal brauchen kann. Wenn ich genug beisammen habe, weiß ich hoffentlich, was zu tun ist. Und bis dahin halte ich mich weiter versteckt und versuche, von niemandem bemerkt zu werden.
An einem kleinen Bushäuschen bücke ich mich, ziehe den Schuh aus und schäle einen Zehn-Euro-Schein aus dem Geldbündel. Damit kaufe ich mir eine Telefonkarte. Daves Handynummer in Vermont kann ich noch immer auswendig. Ich vergeude ein paar Minuten von meiner Karte, nur um Daves Stimme auf seiner Mailbox zu lauschen. »Kannst mich später verhauen, wenn ich nicht zurückrufe ... Wahrscheinlich habe ich vergessen, auf eine SMS zu antworten«, sagt er auf dem Band und lacht. Er klingt genau wie der Kiffer, der er ist. Warum wollte meine Schwester ihn überhaupt heiraten?
Aber ich weiß, wieso sie sich in ihn verliebt hat. Dave sieht extrem gut aus. Selbst mit seinen hässlichen gelben Zähnen und seinen ungepflegten Haaren, aber allein schon, wie er sich bewegt, sein Körperbau und die Art, wie seine Augen einen eindringlich ansehen, lösen in einem den Impuls aus, ihn am liebsten näher zu sich heranzuziehen. Diesen Impuls löst er einfach in einem aus. Als ich noch jünger war und die beiden gerade zusammenkamen, habe ich mich sofort anders gefühlt, wenn er in der Nähe war. Ich wollte mich ausziehen und herumliegen, die Sonne auf meiner Haut fühlen. Annabel und er kamen oft von langen Spaziergängen oder Spritzfahrten wieder, und dann sahen ihre Haare so aus wie morgens direkt nach dem Aufstehen. Er hatte einfach eine große Anziehungskraft auf Frauen. Mit mir wollte er natürlich nichts zu tun haben. Er war bis über beide Ohren in Annabel verliebt.
Ich stoße mir in der engen Telefonzelle den Kopf an. Als ich auflege, beschließe ich, um der guten alten Zeiten willen auch noch auf dem Handy meines Dads anzurufen. Er sitzt im Gefängnis; ich weiß also, dass er nicht rangehen wird. Aber beim Klang von Daves Stimme auf seiner Mailbox kamen gerade alle möglichen Erinnerungen in mir hoch, und das möchte ich jetzt gerne bei meinem Dad wiederholen. Ich möchte mich an seinen trockenen Humor erinnern, an die Art und Weise, wie sich ein kurzes Gespräch zu einer Drei-Stunden-Diskussion über Krieg und Frieden und alles dazwischen ausweiten konnte. Ich möchte schlicht und ergreifend seine Stimme hören.
Ich wähle die vertraute Nummer und lausche dem Klingeln. Plötzlich hebt jemand ab. Erschrocken knalle ich sofort den Hörer auf die Gabel. Die ganze Nacht über geht mir nicht mehr aus dem Kopf, dass jemand drangegangen ist. War das vielleicht der Anwalt meiner Eltern? Und warum geht das Handy überhaupt noch?
Ich kann nicht anders: Nach meiner Arbeit muss ich mir sofort wieder eine Telefonzelle suchen und es mithilfe der Telefonkarte nochmals auf seinem Handy probieren. Es ist dort erst drei Uhr früh. Aber trotzdem geht wieder jemand dran.
Diesmal lege ich nicht auf: Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist unverkennbar die von meinem Dad.
»Wer ist da?«, fragt er verschlafen. Er klingt nicht wütend.
Der Kloß in meinem Hals löst sich langsam auf und Tränen tropfen auf den Telefonhörer.
Eine Weile lang lauscht mein Dad nur. Dann kann ich hören, wie er ziemlich schwer schluckt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er weint ebenfalls.
»PJ?«, fragt er schließlich. Ich kann im Hintergrund jemanden hören, es klingt wie ein Schnäuzen und unverständliches hastiges Gemurmel. Mir wird schwindelig. Das ist meine Mom. Aber es kann nicht meine Mom sein! Die beiden sitzen in getrennten Bereichen des Gefängnisses, um auf ihren Prozess zu warten.
»PJ ... Hier wird viel darüber geredet, dass in Frankreich alle glauben, ihr Mädchen wärt... tot, um Himmels willen. Wo bist du? Irgendwo in
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