Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
wettert, und das bringt die Leute in dieser Gegend ganz mächtig auf die Palme. Ich muss immer höllisch aufpassen, dass ich bloß den Mund halte. Denn ich finde Sklaverei abscheulich und kann die Leute nicht ausstehen, die sie verteidigen und sagen, Schwarze hätten keine Rechte so wie wir Weiße und wären nur das wert, was man bei einer Auktion für ihre Arbeitskraft erzielen kann. Das ist so gemein und abstoßend, als würde man sagen, wir allein, die wir eine weiße Haut haben, sind richtige Menschen, während Schwarze noch mit Tieren auf einer Stufe stehen. Was glaubst du, wie oft ich in den letzten Wochen an Coffin gedacht habe! Manchmal wünsche ich, ich wäre schon viel älter und kräftig wie ein Preisboxer. Denn dann würde ich diesen Burschen, die so über Schwarze herziehen, die dreckigen Reden mit einem Prügel austreiben! Auf jeden Fall hört man hier an jeder Ecke die Drohung, dass die Südstaaten aus der Union austreten werden, wenn dieser Lincoln gewählt wird und die Sklaverei in der ganzen Union verbieten will. Sie wollen dann einen eigenen Staat bilden! Klingt verrückt, findest du nicht auch? Aber die Zeitungen sind voll von diesem Zeug. Sezession nennen sie das, also die Trennung von der Union.
So, das muss mal wieder reichen. Ich habe auch kein weiteres Blatt mehr zur Hand und sonst gibt es auch nichts mehr zu berichten. Jetzt hast du endlich meine neue Adresse. Also schreib mir, Becky! Und vergiss ja nicht, mir mehr von deinem Harvey zu erzählen. Hat er dich schon geküsst? Aber, aber, Schwesterherz! Warum wirst du denn gleich rot?
Es grüßt und drückt dich in Gedanken ganz lieb
dein Bruder Daniel!
Becky schoss das Blut tatsächlich heiß ins Gesicht, als sie die letzten Zeilen las. Und sie wusste nicht, was sie stärker beschäftigte: ihr Äger über Daniels ungehörige Fragen und Unterstellungen oder diese merkwürdige Mischung aus schamhafter Verlegenheit und heimlicher, von Herzklopfen begleiteter Sehnsucht, die der Gedanke an einen Kuss von Harvey in ihr auslöste.
Sechs Wochen später erhielt Becky Gewissheit, was Harvey ihr bedeutete, als sie mit Winston und Emily an den Feierlichkeiten teilnahm, die am 4. Juli in Madisonville stattfanden.
»Wir fahren schon am 3. Juli gegen Nachmittag nach Madisonville und werden dort zwei Nächte bei unseren Freunden, den MacArthurs, verbringen. Es ist schon alles besprochen. Joshua wird derweil bei uns nach dem Rechten sehen und die Tiere versorgen. Du weißt ja, dass er es sofort mit der Angst zu tun bekommt, wenn er von zu vielen Menschen umgeben ist. Deshalb geht er ja auch nie mit in die Kirche«, teilte Winston ihr mit. »Das wird ein Fest, wie es schon lange keines mehr in unserer Gegend gegeben hat!« Sogar Emily, die ihrem Wesen nach wahrlich nicht zu Ausgelassenheit neigte und gewöhnlich ebenso wenig Interesse an Zerstreuung jedweder Art zeigte, freute sich darauf.
Dass sie in Madisonville bei den MacArthurs übernachten würden und sogar zwei Nächte hintereinander, war etwas ganz Ungewöhnliches für die Newmans und natürlich auch für Becky. Aber der Anlass war ja auch nicht weniger außergewöhnlich. Denn Madisonville feierte an diesem Tag nicht nur traditionsgemäß den amerikanischen Unabhängigkeitstag, sondern beging in diesem Jahr auch sein 50. Gründungsjubiläum. Zwar hatte das Organisationskomitee großzügig darüber hinweggesehen, dass in den alten Urkunden nicht der vierte, sondern der sechste Juli als der Tag angegeben war, an dem eine Gruppe von Siedlern an dieser Stelle Land abgesteckt und ihre Siedlung nach James Madison, dem damaligen Präsidenten und Mitbegründer der Vereinigten Staaten, benannt hatte. Aber daran störte sich niemand. Keinem der Komiteemitglieder stand der Sinn danach, innerhalb weniger Tage zwei Feste auszurichten.
Das Komitee war schon seit dem Winter mit der Vorbereitung beschäftigt und hatte diese Herausforderung erfolgreich gemeistert. Die Organisatoren des Festes hatten nicht nur für feierliche Gottesdienste, lokalpatriotische Ansprachen und einen richtigen Umzug mit mehreren Musikkapellen gesorgt, sondern auch zahlreiche fahrende Händler und Aussteller mit ihren Verkaufsständen, Garküchen, Schaubuden und anderen unterhaltsamen Attraktionen nach Madisonville gelockt. Sogar ein kleiner Zirkus mit Dompteur, Artisten, Clowns und anderen Darstellern war schon Tage vorher mit seinen bunten Wagen aus dem Norden eingetroffen und hatte sein Zelt auf dem Festplatz gegenüber der
Weitere Kostenlose Bücher