Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Bahnstation aufgeschlagen. Und unter einem zweiten großen Zelt, das jedoch zu allen Seiten hin offen war, hatten einheimische Handwerker aus sorgfältig glatt geschmirgelten Brettern einen Tanzboden zurechtgezimmert sowie an dessen Kopfende ein Podest für die verschiedenen Kapellen errichtet, die dort zur Unterhaltung der Bürger von Madisonville und der vielen auswärtigen Besucher aufspielten - natürlich erst nach dem offiziellen Programm von Gottesdienst, Ansprachen der Honoratioren und Umzug. Die Musiker, von der zwanzigköpfigen deutschstämmigen Blaskapelle aus Indianapolis bis hin zu dem lokalen, viel bejubelten Amateurtrio mit Fidel, Banjo und Akkordeon, wechselten sich im Laufe des Tages ab und spielten bis tief in die Nacht hinein.
Beckys Vorfreude auf die Festivitäten und Attraktionen in Madisonville erhielt wenige Tage vor ihrem Aufbruch jedoch einen herben Dämpfer. Denn Harvey teilte ihr am Sonntag nach dem Gottesdienst in Winchester mit, dass es noch sehr ungewiss war, ob auch er an dem Fest teilnehmen konnte.
»Mit der Gesundheit meines Vaters steht es wieder mal nicht zum Besten. Er hat sich heute so schlecht gefühlt, dass er gar nicht aufgestanden ist. Im Augenblick sieht es jedenfalls nicht so aus, als könnte ich ihn allzu lange allein lassen«, sagte er.
»Ist es denn wirklich so ernst?«, fragte Becky betroffen und die Enttäuschung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»So genau weiß man das bei meinem Vater nie. Manchmal rappelt er sich ja schnell wieder auf. Aber wäre es dir denn so wichtig, dass ich auch nach Madisonville komme?«, fragte er leise, und in seinen Worten schwang noch etwas ganz anderes mit, was er nicht in Worte zu fassen wagte.
»Ja, ich habe mich schon so darauf gefreut, dass du auch dort sein wirst«, gab sie unumwunden zu und errötete dabei unter seinem Blick.
»Du würdest mich also wirklich vermissen?«
Sie zögerte kurz und nickte dann. »Ohne dich wird es bestimmt nur halb so...«, setzte sie an, während ihr das Gesicht bis unter den Haaransatz brannte, brach jedoch mitten im Satz ab, als sich Winston und Emily aus einer Gruppe von Kirchgängern lösten und in Hörweite kamen.
Harvey verstand und lächelte.
48
A M Tag des großen Festes zeigte sich das Wetter von seiner allerbesten Seite, bescherte es den Besuchern doch einen prächtigen, sonnig klaren Himmel ohne allzu heiße Temperaturen. Auf den Straßen und Plätzen drängten sich die Menschen und jeder führte seine allerbeste Garderobe aus. Wobei die Sommerkleider der Mädchen und Frauen sowie ihre mit Federn, Bändern, Seidenblumen und künstlichen Früchten geschmückten Hüte dem Gewoge ein farbenfrohes Gepräge gaben.
Das fröhlich-bunte Treiben, die allgemeine Ausgelassenheit, die mitreißende Musik sowie die vielen zu bestaunenden Attraktionen ließen auch bei Becky wenig Raum für eine gedrückte Stimmung. Aber sie hielt dennoch immer wieder Ausschau nach Harvey, insbesondere in den Stunden, die sie nicht in Gesellschaft von Winston, Emily und den MacArthurs verbrachte oder mit einigen Klassenkameradinnen und Nachbarstöchtern zusammen war, auf die sie immer wieder stieß. Wenn sie allein durch Madisonville schlenderte, beschäftigten sich ihre Gedanken fast unablässig mit Harvey. Und dann empfand sie seine Abwesenheit ganz besonders schmerzlich. Aber auch als der Tag sich schon neigte, gab sie noch immer nicht die Hoffnung auf, doch noch plötzlich auf ihn zu treffen und wenigstens für ein, zwei Stunden dieses außergewöhnliche Fest mit ihm zusammen genießen zu können.
Mehrmals glaubte sie, ihn vor sich in der Menge oder bei einer der Buden stehen zu sehen. Und dann machte ihr Herz sofort einen freudigen Sprung, während sie eiligst auf die Gestalt zuhielt. Aber es stellte sich immer schnell heraus, dass sie sich getäuscht hatte und derjenige nicht Harvey, sondern ein Fremder war.
Als es dunkel wurde und überall Lampions, Kutscherleuchten und Petroleumlampen die Straßen und Plätze erleuchteten, öffnete der Zirkus sein Zelt für seine besondere Abendvorstellung, für die zwei Feuerschlucker rechts und links vom Eingang eindrucksvoll warben. Und die Leute strömten nur so in Scharen herbei, um sich von den Zirkusleuten unterhalten zu lassen. Viele andere zog es aber auch hinüber zu den flotten Klängen der fünfköpfigen Musikergruppe, die unter dem großen Dach aus aufgespannter Zeltleinwand zum Tanz aufspielte, und der mit Sägemehl bestäubte Bretterboden füllte
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