Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
allgemeinen Verfall und die Vernachlässigung, die ihr auf Schritt und Tritt begegneten, ging sie auf das Haus zu. Was für ein himmelweiter Unterschied zwischen Daniels und ihrem Zuhause auf der Deer Creek Farm ! Es zog ihr das Herz zusammen, als sie daran dachte, wie gut sie es doch all die Jahre bei den Newmans gehabt hatte und in welchen Verhältnissen dagegen ihr Bruder hatte leben müssen.
»Hallo?«, rief sie, konnte sie doch weit und breit keine Menschenseele erblicken. Bis auf einige zerzauste Hühner, die frei auf dem dreckigen Hof herumliefen, wirkte die Farm wie ausgestorben. »Mister Cormick?… Missis Cormick?… Daniel?«
Im nächsten Augenblick wurde die Tür mit dem eingerissenen Fliegengitter aufgestoßen und eine untersetzte, stämmige Frau mit grauem Haar und verhärmten Gesichtszügen trat auf die Veranda hinaus.
»Missis Cormick?«
Die Farmersfrau blinzelte in die Sonne. »Ja?«
»Ich bin Becky, Daniels Schwester.«
Für einen langen Moment stand Helen Cormick schweigend da. Dann schüttelte sie mit betrübter Miene den Kopf. »Sie kommen zu spät, Miss Brown. Ihr Bruder ist schon weg. Vor zwei Tagen hat er sich davongemacht!«
Zu spät! Sie kam zu spät! Becky wurde ganz elend zumute, und sie griff nach dem wackligen Geländer, weil sie sich plötzlich ganz schwach auf den Beinen fühlte.
»Mit wem redest du denn da, Weib?«, rief eine kehlige Männerstimme aus dem Haus, noch bevor Becky sich gefasst hatte und etwas sagen oder fragen konnte.
»Daniels Schwester ist hier!«, rief die Frau über die Schulter zurück.
»Heiliger Strohsack!« William Cormick tauchte nun in der Tür auf. Er war von ähnlich stämmiger Gestalt wie seine Frau, nur einen Kopf größer. Was ihm an Haaren auf dem fast kahlen Schädel fehlte, machte sein buschiger, gut zwei Finger breiter Backenbart mehr als wett. Seine kurze, dicke Nase glich einer runzligen Knolle. Er hatte dunkle Tränensäcke unter den Augen, und die vielen geplatzten Äderchen in seinem Gesicht erinnerten Becky daran, dass Daniel ihr mehrfach geschrieben hatte, dass der Farmer gern und häufig einen über den Durst trank.
Er stemmte die Fäuste in die Hüften, musterte Becky von oben herab und fragte grollend: »Hätten Sie nicht zwei Tage eher kommen können? Dann hätten Sie das Unglück noch abwenden können und Daniel wäre heute noch hier!«
»Entschuldigen Sie!«, erwiderte Becky, von seinem unerwartet groben Vorwurf überrumpelt. »Ich habe den Brief Ihrer Frau vor drei Tagen erhalten und bin am nächsten Morgen sofort zu Ihnen aufgebrochen!«
»Natürlich trifft Sie keine Schuld, Miss Brown!«, sagte Helen Cormick nun hastig und warf ihrem Mann einen ärgerlichen Blick zu. »Also lass gefälligst diese unangebrachten Vorwürfe, Bill!« Dann wandte sie sich wieder Becky zu und sagte mit einem mühsamen Lächeln: »Aber bitte kommen Sie doch aus der Sonne und gehen wir ins Haus! Sie werden von dem langen Weg sicherlich durstig sein. Und was geschehen ist, ist nun mal geschehen.«
William Cormick brummte etwas Unverständliches und verschwand vor ihnen im Haus.
Becky stieg die Stufen hoch und Müdigkeit und Bedrückung lagen wie eine schwere Last auf ihr. Sie war froh, als sie sich im Halbdunkel der Küche auf einen Stuhl fallen lassen konnte.
»Bitte erzählen Sie, was passiert ist und wo mein Bruder jetzt ist!«, bat sie die Farmersfrau, nachdem sie mehrere große Schlucke von dem lauwarmen Zitronenwasser getrunken hatte.
»Es ist passiert, was kommen musste, seit er wieder mit dem Taugenichts Charley zusammen ist und die beiden sich mit Captain Hendersons kriegswütigen Männern eingelassen haben!«, grollte William Cormick und nahm einen Schluck aus einem Steinbecher, der jedoch keineswegs mit Zitronenwasser, sondern wohl mit einer Art von Branntwein gefüllt war, denn Becky konnte deutlich den Alkohol im Atem des Farmers riechen.
»Wer ist Captain Henderson?«
»Scott Henderson ist ein reicher Fatzke, der meint, sich mit seinem Kommando im Krieg ein paar Orden verdienen zu können!«, sagte William abfällig.
»Er ist der Besitzer der Sägemühle in Pleasantville«, erklärte Helen Cormick. »Und er ist nicht wirklich ein Captain. Den Rang haben ihm seine Männer gegeben, weil er nun mal ihr Anführer ist.«
William Cormick schnaubte voller Verachtung. »Ach was, das Großmaul hat sich selbst zum Captain ernannt. Vermutlich glaubt er, es so schneller zum General zu bringen! Dabei ist er der miserabelste Schütze von dem
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