Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Morgen schlafen lassen soll!«, seufzte er und machte eine verdrossene Miene. »Aber ein Wort ist ein Wort!«
Becky rieb sich die Augen, streckte sich und lachte leise auf. »Genau! Und jetzt lass uns fahren!«
Im Licht der aufgehenden Sonne erreichten sie Madisonville. Becky kaufte am Schalter, der gerade erst öffnete, ihre Fahrkarte, und dann hatten sie noch fast eine drei viertel Stunde Zeit, bis der Zug einlief.
»Pass bloß auf dich auf!«, sagte Harvey zum wiederholten Mal, als es schließlich Zeit wurde, dass sie in den Wagon stieg. »Wenn dir etwas zustößt, werde ich mir mein Lebtag lang schreckliche Vorwürfe machen.«
»Ach Harvey! Was soll mir denn schon passieren? Weder fahre ich in den Krieg noch in einen unbesiedelten Landstrich im Fernen Westen! In ein paar Tagen bin ich zurück und dann ist die Sache ausgestanden!«, versicherte sie.
»Ich liebe dich wie nichts sonst auf der Welt, weißt du das?« Er hielt ihre Hände, als wollte er sie nicht loslassen.
»Und ich liebe dich, Harvey. Aber jetzt muss ich wirklich einsteigen, sonst fährt der Zug noch ohne mich ab!«
»Bitte komm wohlbehalten zurück, Becky!«, stieß er gequält hervor. Und dann zog er sie in seine Arme und küsste sie auf den Mund, zum ersten Mal.
Sie schlang ihre Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss mit all ihrer Liebe und Hingabe, ohne sich darum zu kümmern, wer ihnen dabei zusah. Sie wünschte, seine Lippen auf ewig so auf ihrem Mund zu spüren. Dann jedoch heulte die Dampfsirene erneut auf und schnell löste sie sich aus seiner innigen Umarmung. »Bis bald, mein Liebster!«, rief sie ihm zu und stieg die Stufen in den Wagon hoch. Vom nächsten Abteilfenster winkte sie ihm noch zu, bis er aus ihrer Sicht verschwand. Dann sank sie auf die nächste Holzbank. Endlich war sie auf dem Weg zu ihrem Bruder, nach fast zweieinhalb Jahren der Trennung!
56
A M Mittag des folgenden Tages traf Becky in Pleasantville ein. Ihre freudige Erwartung, ihren Bruder schon in der nächsten Stunde in die Arme schließen zu können, verdrängte die Müdigkeit nach der langen Fahrt mit den vielen Unterbrechungen.
Als sie sich auf der Poststelle des Ortes nach dem Weg zum Hof der Cormicks erkundigte, bot sich ein vollbärtiger Farmer freundlicherweise an, sie auf seinem Fuhrwerk ein gutes Stück des Weges mitzunehmen. »Ich muss in dieselbe Richtung.«
Eine halbe Stunde später hielt er hinter einer steinigen Senke an. »So, hier trennen sich unsere Wege, Miss. Der Weg dort drüben führt zur Farm der Cormicks«, sagte er und deutete auf Wagenspuren, die nach links von der Landstraße abzweigten und zu einem Waldstück führten. »Wenn du auf der anderen Seite des Waldes bist, siehst du zu deiner Rechten schon das Haus. Also dann, alles Gute!«
»Ihnen auch und besten Dank«, sagte Becky, nahm ihren Reisebeutel auf und sprang vom Kutschbock.
Ungeduld und Bangen trieben sie zu einem eiligen Schritt an, obwohl die Julisonne heiß vom Himmel brannte und sie rasch ins Schwitzen kam. Der Weg war staubig, und die Sonne stand schon so hoch, dass die Bäume im Wald keinen kühlenden Schatten warfen. Aber sie gönnte sich weder eine Atempause noch ein weniger schweißtreibendes Tempo. Es drängte sie mit aller Macht, zur Farm der Cormicks und damit zu Daniel zu kommen.
Nach einer guten Meile gab der Wald sie frei, und vor ihr lag ähnlich sanft gewelltes Farmland, wie es ihr von ihrer neuen Heimat bei den Newmans vertraut war. Und wie der Mann, der sie aus Pleasantville mitgenommen hatte, gesagt hatte, fiel ihr Blick auch sogleich auf das Anwesen der Cormicks.
Selbst wenn Daniel ihr nicht geschrieben hätte, wie heruntergekommen die Farm seiner Pflegeeltern war, so hätte ihr mittlerweile geschultes Auge ihr doch schon beim Näherkommen verraten, dass bei den Cormicks vieles im Argen lag. Die Zäune bedurften dringend einer Reparatur. Zahlreiche Pfähle waren morsch oder gar schon durchgebrochen. Und wo Maschendraht gespannt war, hing dieser wie erschöpft vom jahrelangen Dienst und grober Vernachlässigung durch oder wies sogar große Löcher auf. Auch Feld und Acker machten einen wenig gepflegten Eindruck. Dasselbe galt für den dreckigen, unaufgeräumten Hof sowie das Farmhaus mit seinen windschiefen Nebengebäuden. Überall war die Farbe abgeblättert. Alles schrie förmlich danach, dass jemand gehörig die Ärmel aufkrempelte und sich mit großer Tatkraft an all die seit langem liegen gebliebene Arbeit machte.
Bestürzt über den
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