Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
zugerichtet?«, rief die Mutter erschrocken, griff sofort zu einem Lappen, tunkte ihn in den Wasserkübel und tupfte vorsichtig sein Gesicht ab.
Daniel versuchte, sich ihrer Hand zu entziehen. »Hier sind die beiden Bettlaken, ohne die ich nicht nach Hause kommen sollte!«, sagte er ebenso trotzig wie stolz und legte das Paket, das er unter den Arm geklemmt hatte, auf den Tisch. »Sie sind zwar nicht neu, aber doch viel weniger abgenutzt als die, die wir besessen haben.«
Ein Ausdruck der Bestürzung trat auf das Gesicht der Mutter. »Daniel! Wenn du sie gestohlen hast, bringst du sie sofort zurück!«, rief sie scharf. »Ich lasse nicht zu, dass mein Sohn...«
»Sie sind nicht gestohlen!«, fiel Daniel ihr rasch ins Wort. »Ich habe sie bei Jacobson’s gekauft!«
»Und woher hast du das Geld dafür gehabt?«
»Ich habe einfach Glück gehabt. Auf einem Ruinengrundstück bin ich unter einem Berg Schutt auf eine ganze Menge Metall gestoßen. Das habe ich zum Schrotthändler gebracht und von dem Geld habe ich die Betttücher gekauft.«
»Schwörst du, dass es die Wahrheit ist?«, fragte die Mutter argwöhnisch. »Beim Blut des Gekreuzigten und der seligen Jungfrau Maria?«
Daniel zuckte nicht mit der Wimper und nickte mit ernster Miene. »Ja, ich schwöre es, Mom, meinetwegen auch bei allen Aposteln, Heiligen und Märtyrern!«
»Und mit wem hast du dich dann geschlagen?«
»Mit drei Jungen, die ich im Verdacht habe, dass sie uns bestohlen haben«, antwortete er ohne jedes Zögern.
Die Mutter atmete erleichtert auf und umarmte ihn. »Ach, mein Junge. Vergessen wir nie, dass wir für so vieles dankbar sein können. Und es werden auch wieder bessere Zeiten kommen, glaubt mir!«
Als Becky und die Mutter die Nadel nicht mehr halten konnten und es höchste Zeit zum Schlafengehen war, stiegen sie alle aufs Flachdach hinaus.
Wenn die Sommerhitze so drückend auf der Stadt lastete wie in diesen Wochen, flüchtete ein Großteil der Bewohner von Five Points nachts aus den unerträglich aufgeheizten, engen Wohnungen mit ihren fensterlosen Schlafkammern und verbrachte die Nächte im Freien. Die meisten schliefen auf den Dächern. Wo Mietshäuser neuerdings über eiserne, außen angebrachte Feuerleitern verfügten, waren die Laufgitter nachts dicht von den Mietern des Hauses belegt. Auch breite Fensterbänke blieben in diesen Nächten trotz aller Gefahr nicht frei. Und wer nirgendwo anders einen Platz fand, der legte sich einfach zu den vielen anderen unten in den Dreck der Bürgersteige.
»So, und jetzt erzähl mir mal, wie es wirklich gewesen ist«, forderte Becky ihren Bruder leise auf, als die Mutter noch einmal hinunterging, um einen Krug Wasser zu holen. »Denn das mit dem vielen Metall, das du gefunden haben willst, nehme ich dir nicht ab, und wenn du tausendmal einen heiligen Schwur darauf leistest. Also, heraus mit der Wahrheit!«
Daniel verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, zuckte aber sofort schmerzlich zusammen und fuhr vorsichtig mit der Zunge über seine aufgeplatzte Unterlippe. »Ich wollte es so machen wie die Diebe, die uns beklaut haben, und drüben in der Chatham Street eine Wäscheleine plündern. Aber da waren zwei Burschen, die haben besser aufgepasst als ich.«
»Und von denen hast du die Prügel bezogen!«
»Ja, aber sie waren auch älter als ich.«
»Also bist du getürmt und hast es woanders noch einmal versucht?«
»Nein, jedenfalls nicht mit Wäscheklauen«, gab Daniel leise zurück. »Ich bin rüber zur Bowery und habe auf den Dächern die Bleiverkleidungen von mehreren Kaminen gerissen und das Blei an den Schrotthändler verkauft.«
»Ja, hast du sie denn noch alle?«, stieß Becky erschrocken hervor. »Weißt du denn nicht, was passiert, wenn man dich dabei erwischt?«
»Was soll denn schon groß passieren?«, fragte Daniel störrisch zurück. »Höchstens dass der Vater mich grün und blau prügelt, wenn ich den Schaden nicht wieder gutmache. Und erzähl mir jetzt nicht noch mal, dass er die Sache morgen vergessen oder mir doch verziehen hätte!«
»Du Blödmann! Und wenn schon! Das ist jedenfalls noch lange kein Grund, so etwas Gefährliches zu tun, wie Bleiverkleidungen von den Kaminen zu reißen!«, zischte Becky wütend, wobei ein Großteil ihrer Wut ihrem Vater galt. Denn wenn er Daniel mit seiner Drohung nicht so in Angst und Schrecken versetzt hätte, wäre ihr kleiner Bruder nie und nimmer auf die Idee gekommen, sich auf eine derlei riskante Diebestour einzulassen.
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