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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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»Himmelherrgott, das hat aber lange gedauert! Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht herumtrödeln sollst!«
    »Das konnte ich ja schlecht Missis Greeley sagen, wo sie sowieso schon so übel gelaunt war«, erwiderte Becky mürrisch. »Sie hatte nämlich Streit mit einer anderen Näherin, und da musste ich warten, bis sie Zeit für mich hatte.«
    Der Vater machte eine ungeduldige Handbewegung, die ausdrückte, dass er an ihren Erklärungen nicht interessiert war. »Nun gib schon das Geld her!«
    Becky händigte ihm acht Shilling und ein paar Cent aus.
    »Nur acht Shilling und Sixpence? Für neunundzwanzig Hemden? Da fehlt was!«, blaffte der Vater sie sofort an.
    Becky wappnete sich innerlich und bemühte sich um einen treuherzigen Ausdruck. »Das ist alles, was sie mir ausgezahlt hat! Sie hat mal wieder an allem und jedem etwas auszusetzen gehabt und Abzüge gemacht. Ich habe dir doch gesagt, dass sie ganz übler Laune war!«
    Der Vater packte sie mit rauem Griff und zog sie ganz nahe zu sich heran. »Sie hat über anderthalb Shilling vom Lohn abgezogen?«, zischte er und sein Bieratem schlug ihr ins Gesicht. »Das soll ich dir glauben?«
    »Ja, es ist die Wahrheit, Vater! Ich schwöre es!«, beteuerte Becky, und weil sie wusste, dass der Stolz des Vaters es ihm verbot, den Laden von Eleanor und Homer Greeley aufzusuchen, forderte sie ihn auf: »Geh doch zu ihr und frag sie selbst, wenn du mir nicht glaubst!«
    Er gab einen knurrenden Laut von sich und ließ sie frei. »Gut möglich, dass ich genau das tun werde!«, grollte er. »Und jetzt sieh zu, dass du wieder zurück an die Arbeit kommst! Und näht gefälligst sorgfältiger, verstanden?«
    »Ja, Vater«, sagte Becky, äußerlich ganz die folgsame Tochter, während sie ihn am liebsten vor allen Leuten mit ihren Fäusten traktiert und ihm ins Gesicht geschrien hätte, dass er nun in einer Nacht versoff, wofür sie sich fünf Tage von morgens bis in die Nacht abgerackert hatten.
    Aber nicht ein Wort davon kam ihr über die Lippen. Sie musste sich mit dem billigen Trost zufrieden geben, dass sie der Mutter wenigstens anderthalb Shilling, die sie im Hemdensack zwischen den Stofflagen versteckt hatte, nach Hause bringen konnte.
    »Bist du jetzt beruhigt, Joe, du alter Halunke? Hier, hörst du die Münzen klingeln? Ich werde dir nicht einen lausigen Cent schuldig bleiben!«, tönte ihr Vater und klimperte mit den Münzen in der Hand, kaum dass er sich wieder der Theke und dem Ladenbesitzer zugewandt hatte. »Also mach den Becher endlich wieder voll!«
    »Nichts für ungut, Frederik, aber bei mir wird nun mal nicht angeschrieben, und das weiß jeder im Viertel«, hörte Becky den feisten Ladenbesitzer antworten und folgerte aus dem Wortwechsel, dass ihr Vater in der kurzen Zeit Daniels Geld schon bis auf den letzten Cent in Bier umgesetzt und um Kredit gebeten hatte.
    »He, warte mal!«, rief da hinter ihr eine vertraute Stimme leise, als sie schon fast an der Tür war. »Du fegst ja rein und raus wie der Wirbelwind!«
    Überrascht drehte sich Becky um - und ihr Gesicht leuchtete auf. »Coffin? Wo hast du dich denn versteckt? Ich habe dich überhaupt nicht gesehen!«
    Vor ihr stand der vierzehnjährige Samuel Robinson, ein Schwarzer von untersetzter, kräftiger Statur, der seit Jahren auf der Straße lebte, über der rechten, leeren Augenhöhle eine Stoffklappe trug und auf den Spitznamen »Coffin« hörte. Denn bevor er obdachlos geworden war, hatte er einige Jahre bei seinem allein stehenden Onkel gelebt, einem Sargschreiner in der Leonard Street. In dessen Werkstatt war ihm im Alter von acht Jahren ein Holzsplitter tief ins rechte Auge gedrungen, das nach einer schweren Vereiterung hatte entfernt werden müssen. Ein Jahr später war sein Onkel an Typhus gestorben. Damit hatte sein Leben als Straßenjunge begonnen. Seitdem schlief er im Sommer nachts in einem Park, auf dem Gehsteig oder unter irgendeiner Treppe, vorzugsweise in Cow Bay oder in der berüchtigten Bottle Alley, wo viele Schwarze lebten, freie sowie entlaufene Sklaven aus den Sklaven haltenden Südstaaten. Und im Winter suchte er sich in der Stadt irgendeinen warmen Keller.
    Früher, als es ihnen noch besser gegangen war, hatte Becky ihm so manches Mal einen Kanten Brot oder ein Stück Hartwurst zugesteckt, wenn er bettelnd durch ihre Straße gekommen war. Und einmal, als er einen vereiterten Zahn gehabt und entsetzlich unter Schmerzen gelitten hatte, war sie sogar so weit gegangen, heimlich einen

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