Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
es in den Tagen nach Mildreds Tod große Anstrengung, Stunde um Stunde mit der Mutter am Nähtisch zu sitzen und ihre äußere Fassung zu bewahren, tobte in ihrem Innern doch ein Sturm aus ohnmächtigem Zorn, Kummer und Schmerz.
Sie glaubte nicht an einen Unfall. Es passte einfach nicht zu Mildred. Ihre Freundin hatte nie zu Waghalsigkeit geneigt. Mildred war in Five Points aufgewachsen und von Kindheit an mit den Gefahren vertraut gewesen, die das sommerliche Schlafen auf einem Hausdach mit sich brachte. Sich so nahe an eine Dachkante ohne schützende Ummauerung zu legen, wo schon eine falsche Bewegung im Schlaf den Tod bedeuten konnte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, davon war Becky felsenfest überzeugt.
Nein, dass Mildred ausgerechnet in den frühen Morgenstunden jener Nacht den Tod gefunden hatte, in der sie zum ersten Mal als Kinderhure fremden Männern hatte zu Willen sein müssen, war alles andere als ein Zufall. Es hatte sich nie und nimmer um einen Unfall gehandelt, sondern Mildred hatte mit dem Sturz in die Tiefe ihrem Leben selbst ein Ende bereitet - wohl aus hoffnungsloser Verzweiflung. Dass sie dem Tod so bereitwillig in die Arme gesprungen war, gab Becky eine erschreckende Ahnung von den seelischen wie körperlichen Qualen, die Mildred in jener Nacht überwältigt haben mussten. Sie verabscheute Lillian Connelly für das, was sie Mildred angetan hatte, und wenn sie sich unbeobachtet wähnte, konnte sie manchmal die Tränen nicht zurückhalten.
»Was hast du?«, fragte Daniel bestürzt, als er sie einmal dabei überraschte. »Hat Vater dich geschlagen?«
Becky schüttelte den Kopf. »Ach, wenn es doch nur das wäre«, sagte sie und wischte sich schnell die Tränen von der Wange. »Ich musste nur wieder an Mildred denken, aber es ist schon wieder gut.«
Sie betete jede Nacht für ihre tote Freundin, und als die Mutter sie am Samstagnachmittag wieder mit fertigen Hemden zu Eleanor und Homer Greeley schickte, zweigte sie von dem Lohn einige Cent ab, um in der Kirche in der Mott Street eine Kerze für Mildred vor dem Marienaltar zu entzünden. Das schenkte ihr ein wenig Trost.
Zehn Tage nach Mildreds Tod betrat Becky gegen Abend wieder einmal Slocum’s Grocery. Ihnen war das Salz ausgegangen und die Mutter hatte sie mit der leeren Blechdose und einem Sixpence schnell um die Ecke geschickt. Denn nichts hasste der Vater mehr, als ungesalzene Kartoffeln vorgesetzt zu bekommen.
Zu beiden Seiten der Theke, wo Joe Slocum im Schein der Petroleumlampen Bier, Gin und billigen Branntwein ausschenkte, drängten sich wie jeden Abend die Zecher. Ihre lauten Stimmen, das Gelächter und Gejohle vernahm Becky schon auf der Kellertreppe.
Becky schenkte den Zechern keine Beachtung, denn sie hatte es eilig. Jeden Moment konnte der Vater nach Hause kommen, und die Mutter fürchtete sein hitziges Temperament, wenn sie dann ungesalzene Kartoffeln aus dem Topf schöpfen musste.
Gerade hatte sie bezahlt und sich die aufgefüllte Salzdose unter den Arm geklemmt, als sie plötzlich aus dem allgemeinen Gelärme eine ihr bekannte Stimme heraushörte, zusammenfuhr und nach rechts blickte. Dort belagerte eine Gruppe von trinkfreudigen Frauen die Theke. Und eines dieser derben Weiber war Lillian Connelly! Sie kehrte ihr zwar den Rücken zu, aber die rauchige Stimme gehörte unverkennbar Mildreds Mutter!
»Der Teufel soll mich auf der Stelle holen, wenn das gerecht ist!«, hörte Becky sie mit schon alkoholschwerer Zunge sagen. »Meine Älteste ist ja schon ein großer Erfolg gewesen, aber meine kleine Mildred ist noch viel besser eingeschlagen.«
»Ja, zehn Dollar Jungfernlohn, das hast du uns jetzt schon oft genug erzählt!«, rief eine der Frauen trocken. »Sag lieber, ob du noch eine Runde spendierst!«
»So ist es, zehn Dollar hat meine Mildred gebracht, aber nicht nur beim ersten Mal!«, prahlte Lillian Connelly unbeirrt weiter. »Ihr zweiter Freier hat nämlich dasselbe für sie hingelegt! Und der dritte immer noch sieben! Jawohl, so ist es gewesen! Meine Mildred wäre ganz groß rausgekommen!«
»Klar doch, Lilly. Aber was ist nun mit der nächsten Runde? Du schwimmst doch im Geld. Da wirst du doch nicht so geizig sein und uns arme Weiber auf dem Trockenen sitzen lassen, oder?«
»Was? Verdammt, ja... meinetwegen! Trinken wir noch einen auf meine Mildred!… He, Joe! Füll uns noch mal nach!«, rief die Kupplerin, um dann mit einer Mischung aus Stolz und Gejammer fortzufahren: »Mit meinem kleinen Goldstück
Weitere Kostenlose Bücher