Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
»Und das auch noch drüben in der Bowery!« Lag doch dieses benachbarte Viertel, das östlich vom Chatham Square begann, mit den Bewohnern von Five Points in einer hasserfüllten Dauerfehde, die immer wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen den gefürchteten Bowery Boys und den Banden von Five Points führte.
»Die Bowery Boys machen mir keine Angst«, prahlte Daniel. »Für die stiernackigen Kraftprotze bin ich doch viel zu schnell. Und für einen Jungen, der ein paar Bleiverkleidungen geklaut hat, interessieren sie sich erst gar nicht!«
»Aber die Polizei, du Dummkopf! Die Polizei kümmert es zwar einen feuchten Dreck, wenn sich die Bewohner von Five Points gegenseitig Wäsche von der Leine klauen oder wenn sich Five Pointers mit den Bowery Boys blutige Schlägereien liefern. Aber wenn du dich am Eigentum der Hausbesitzer vergreifst, egal in welchem Viertel, kennen sie kein Erbarmen!«, erregte sich Becky. »Und dann kriegst du mehr als nur den Polizeiknüppel zu spüren, darauf kannst du dich verlassen. Die machen kurzen Prozess mit dir! Die werden dich verhaften und in ein Heim stecken! Vielleicht landest du sogar im Gefängnis auf Blackwell’s Island oder in einer dieser anderen schrecklichen Anstalten, die es dort gibt! Hast du Schwachkopf schon mal darüber nachgedacht, warum die Erziehungsanstalt Hellgate genannt wird?«
Daniel schluckte, als Becky die lange, schmale Insel im East River erwähnte, die selbst für die abgebrühten Bewohner von Five Points einen gefürchteten Ort darstellte. Das dortige Gefängnis und die Erziehungsanstalt standen in einem genauso üblen Ruf wie das Armenkrankenhaus, das nur einer von drei eingelieferten Kranken wieder lebend verließ, wie es hieß. Und nicht viel besser ging es im Almosenheim, im Arbeitshaus und in der Idiotenanstalt zu, wo die Verrückten weggeschlossen wurden. Auf Blackwell’s Island war ein Ort schlimmer als der andere.
»Mach jetzt nicht so einen großen Aufstand darum«, flüsterte Daniel, und seine Stimme klang belegt, als hätte er einen Kloß im Hals. »Es ist ja nichts passiert.«
»Versprich mir, dass du das nicht noch einmal tust!«, verlangte Becky.
»Ja, ich verspreche es«, sagte Daniel, und dann kam auch schon ihre Mutter zurück, was ihrer geflüsterten Unterhaltung ein Ende bereitete.
Becky konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen, was nicht allein an der nicht weichen wollenden Hitze und der allgemeinen Unruhe auf dem Dach lag. Angespannt und verschwitzt drehte sie sich von einer Seite auf die andere, ohne dass der Schlaf sie von ihren Sorgen und Grübeleien befreien konnte.
Immer wieder gingen ihre Gedanken zu Mildred. Hitzewellen jagten durch ihren Körper, als sie sich vorzustellen versuchte, was ihre einstige Schulkameradin in dieser Nacht über sich ergehen lassen musste. Sie versuchte, diese Gedanken zu unterdrücken, weil sie ihr Übelkeit und einen Schmerz bereiteten, für den sie keinen Namen wusste. Aber die entsetzlichen Gedanken und Bilder ließen sich einfach nicht verdrängen. Und quälend lange Stunden vergingen, bis die Müdigkeit sie endlich erlöste. Doch auch im Schlaf fand sie keine Ruhe, wurde sie doch von beklemmenden Albträumen verfolgt.
Am nächsten Morgen erfuhr Becky auf den Stufen zu Gustav Meyer’s Bakery , dass in der Nacht zuvor in der Nachbarschaft wieder einmal jemand im Schlaf von einem Dach ohne Ummauerung in die Tiefe gestürzt war.
»Sie war sofort tot, das arme Mädchen«, sagte eine der Frauen, die von dem Unfall zwar mit aufrichtigem Bedauern, aber doch ohne Verwunderung berichtete. Tragödien dieser Art passierten nun mal in den heißen Sommermonaten. »Mildred war ihr Name... Mildred Connelly.«
10
N UR sehr wenige Bewohner von Five Points konnten es sich leisten, einen soliden Sarg und eine Grabstelle auf einem regulären Kirchfriedhof zu bezahlen und einen Bestatter mit der Beerdigung ihrer Verstorbenen zu betrauen. Ein Begräbnis, bei dem ein Armenpriester ein kurzes Gebet am offenen Grab sprach und der in billiges Tuch gewickelte Leichnam durch die Bodenklappe eines Leihsarges in die Grube fiel, galt schon als eine recht würdige Beerdigung. Die meisten wurden irgendwo draußen auf Potter’s Field von Sträflingen in anonymen Gräbern und ohne jede Zeremonie verscharrt. So geschah es auch mit Mildred. Ihre Mutter rückte nicht einmal die paar Shilling für einen schäbigen Leihsarg und einen Handlanger heraus, der den Hebel für die Bodenklappe umlegte.
Becky kostete
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