Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
erwartete, als Becky zu ihm zurückkehrte. Tapfer fügte er sich in das, was er am Abend zuvor als unabänderlich eingesehen hatte. Becky bestand darauf, ihr Erspartes durch zwei zu teilen und ihm zwei Dollar und vierzig Cent mitzugeben.
Es wurde ein aufwühlender, schmerzlicher und tränenreicher Abschied, bei dem sie sich immer wieder beteuerten, jeden Morgen beim Aufwachen und jeden Abend beim Einschlafen aneinander zu denken und alles zu tun, um eines Tages, wenn sie alt genug waren, um über ihr Leben selbst bestimmen zu können, wieder zusammenzukommen.
Schließlich war der Moment der Trennung und der letzten Umarmung nicht länger aufzuschieben. Der Zug, in den Mister Hamilton und Miss Kingsbury mit ihren achtzehn Kindern einsteigen mussten, stand schon auf dem Gleis, und die Lok dampfte wie ein von Unrast erfülltes Pferd, das darauf wartete, sich ins Geschirr zu legen.
»Versprich, nach mir zu suchen, Becky!«, sagte Daniel mit tränenfeuchtem Gesicht. »Egal wie lange es auch dauern mag. Irgendwann!«
»Ich verspreche es dir!«, sagte Becky und erinnerte sich sofort an jene Nacht im Central Park, als ihr Bruder ihr von seinem Albtraum erzählt und ihr das Versprechen abgenommen hatte, nach ihm zu suchen, sollte er jemals nicht mehr zu ihr zurückfinden. Die Erinnerung ging ihr wie ein Stich durch die Seele, hatte sie jetzt doch das Gefühl, ihr Versprechen von damals zu brechen, auch wenn die Umstände völlig andere waren und ihr gar keine andere Wahl ließen.
Es zerriss ihr fast das Herz, als sie seine Hände freigab und hilflos zurückbleiben und zusehen musste, wie er mit den anderen in den Zug stieg. Augenblicke später erschien sein schmales, blasses Gesicht hinter der rußbeschmierten Scheibe eines Fensters. Er winkte, und sie winkte zurück, während der Zug sich entfernte. Sie lief bis zum Ende des Bahnsteigs auf der Höhe des Wagons mit, ohne den Blick vom Gesicht ihres kleinen Bruders zu nehmen. Und sie stand noch dort am Ende der Plattform und winkte, als der Zug in der Ferne längst zu einem rauchenden Strich zusammengeschrumpft war, der sich schließlich in ihren Tränen auflöste.
37
E RST nach Einbruch der Dunkelheit erreichten die fünfzehn Kinder, die mit Georgia Cunningham die Reise durch das weite, offene Land in den Nordwesten von Indiana fortgesetzt hatte, die Ortschaft Madisonville und damit die letzte Station ihrer mehr als einwöchigen Suche nach Familien, die ein Waisenkind aufnehmen wollten.
Die Nacht verbrachten sie gleich neben der Bahnstation in einem schmalbrüstigen Hotel mit winzigen Zimmern, die mit ihren rauen, splitterreichen Holzwänden und nachlässig eingesetzten Fensterrahmen viel Ähnlichkeit mit Bretterzellen besaßen. Kurz nach ihrem Eintreffen ging ein heftiger Frühjahrsregen über das Land nieder und das wütende Prasseln der herabstürzenden Wassermassen auf Dach und Fenster empfand Becky als passende äußere Untermalung ihres tiefen Kummers. Auch wenn die Vernunft ihr sagte, dass sie recht daran getan hatte, auf Missis Cunningham zu hören und ihren Bruder ziehen zu lassen, schützte sie dieses Wissen doch nicht vor Zweifeln und Schuldgefühlen. Und es half schon gar nicht gegen das Gefühl des Verlassenseins.
Sie teilte das rostige, quietschende Eisenbett in dieser Nacht mit einem Mädchen namens Phyllis, mit dem sie sich in den letzten Tagen ein wenig angefreundet hatte, ohne jedoch viel über sie zu wissen. Phyllis war nur ein Jahr jünger und wegen ihrer recht derben Gesichtszüge und ihrer schlechten Zähne bisher auf wenig Interesse gestoßen.
Als Phyllis sie weinen hörte, legte sie ihre Hand auf Beckys Arm. »Du machst dir jetzt Vorwürfe, weil du nicht länger für deinen Bruder da sein und auf ihn aufpassen kannst, nicht wahr?«, fragte sie ins klamme Dunkel der Nacht.
»Ja«, schluchzte Becky.
»Du hast dir nichts vorzuwerfen, Becky. Du hast getan, was du konntest - gerade weil du ihn allein mit Mister Hamilton und Miss Kingsbury hast ziehen lassen.«
»Das sagst du so leicht!«
Phyllis schwieg einen Moment. »Nein, ich weiß, wovon ich rede«, sagte sie dann, und ihre Stimme bebte, als ränge auch sie nun mit den Tränen. »Ich habe nämlich nicht nur meine Eltern, sondern danach auch noch meinen kleinen Bruder verloren.«
»Entschuldige, das wusste ich nicht.«
»Woher auch? Ich habe mit keinem darüber gesprochen, aber dir will ich es erzählen. Er hieß Kenneth, und er war gerade erst acht, als sie ihn im letzten Monat irgendwo
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