Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
auf Potter’s Field begraben haben. Er ist krank geworden und ich konnte ihm nicht helfen. Kenneth ist in meinen Armen in einer Kellerabsteige gestorben. Ich werde mir ewig Vorwürfe machen, dass ich nicht eher zur Children’s Aid Society gegangen bin. Mein Bruder hätte noch leben und jetzt eine Familie haben können, wenn ich so vernünftig gewesen wäre und das getan hätte, was du getan hast. Also trauere nicht um das, was du glaubst, verloren zu haben, sondern sei dankbar für das, was du behalten hast. Du bist ihm die Schwester gewesen, die er gebraucht hat. Ich bin es nicht gewesen!«
Diese Worte waren Balsam für Beckys gequälte Seele und aneinander geschmiegt weinten sie sich gemeinsam, Schwestern im Schmerz, in den Schlaf.
Am frühen Nachmittag des folgenden Tages, der trockenes Wetter, aber auch einen empfindlich frischen Wind brachte, fand die Präsentation statt, und zwar wieder einmal in einem großen General Store, der in jeder jungen Siedlung von dieser überschaubaren Größe noch vor der Kirche der beliebteste Treffpunkt der Einwohner und der Farmer aus der Umgebung war.
Der geschäftstüchtige Inhaber des Ladens hatte die linke Seite von Kisten und Fässern freigeräumt, damit genügend Platz für die Waisenkinder und die interessierten Erwachsenen aus dem Ort zur Verfügung stand, ohne dass deshalb jedoch sein Geschäft an der Ladentheke zum Erliegen kam. Er rechnete wohl damit, dass dieses Ereignis auch noch viele Schaulustige in seinen Laden führte, die dann gleich die Gelegenheit zum Einkauf nutzen würden.
Das erniedrigende Ritual nahm nach der kurzen Ansprache von Georgia Cunningham seinen gewohnten Gang. Becky schenkte dem allgemeinen Treiben und Stimmengewirr um sich herum nur wenig Beachtung. Mit ihren Gedanken war sie bei ihrem Bruder. Sie fragte sich, ob Daniel wohl schon am Ziel seines innigsten Wunsches stand und eine Familie gefunden hatte.
Plötzlich riss sie eine Männerstimme aus ihren Grübeleien. »Du machst ja ein so trauriges Gesicht, Mädchen. Ist es so schlimm?«, fragte der Fremde.
Becky fuhr zusammen und blickte auf. Vor ihr stand ein Mann, den sie irgendwo zwischen Mitte und Ende vierzig schätzte. Ein schwarzer, kurz gestutzter Vollbart rahmte ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht mit grauen Augen ein, deren freundlicher Blick auf ihr ruhte. Er trug einen breitkrempigen, speckigen Lederhut und die typische, derbe Arbeitskleidung eines Farmers mit einem wetterfesten Mantel, der ihm bis über die schweren, lehmbeschmierten Stiefel reichte. Neben sich hatte er einen Sack aus dickem Segeltuch abgestellt.
Becky erinnerte sich, diesen Mann an der Ladentheke stehen und etwas einpacken gesehen zu haben, als Georgia Cunningham ihren obligatorischen Spruch aufgesagt hatte. Der Mann hatte offenbar gerade seinen Einkauf beendet und gehörte wohl kaum zu denjenigen, die sich wegen der Waisenkinder im General Store eingefunden hatten.
»Es ist schlimm genug«, antwortete sie.
»Wie lange seid ihr denn schon unterwegs?«
»Über eine Woche.«
»Du siehst nicht nur sehr traurig, sondern auch sehr müde aus. Wie heißt du, Kind?«, fragte er auf eine ruhige, bedächtige Art, als wollte er erst jedes Wort gut abwägen, bevor er es aussprach.
»Becky... Becky Brown.«
Er nickte und lächelte sie an, als hätte sie etwas sehr Weises gesagt. »Mein Name ist Winston... Winston Newman.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und ob er überhaupt eine Antwort erwartete. Und so schwieg sie und sah ihn nur an. Bestimmt würde er gleich seinen Sack nehmen und seiner Wege gehen.
Doch er blieb bei ihr stehen und schaute ihr für mehrere lange Sekunden ins Gesicht, als überlegte er, was er tun solle. Sie bemerkte, wie sich seine breite Brust hob, als er tief Luft holte.
»Möchtest du zu mir und meiner Frau kommen und bei uns leben?«, fragte er dann. »Wir haben keine eigenen Kinder. Möchtest du unsere Tochter sein?«
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Zum ersten Mal auf dieser Reise hörte sie diese Worte! Zum ersten Mal wollte sie jemand bei sich aufnehmen! Ihr Herz begann, wie wild zu schlagen. Sie öffnete den Mund, der sich plötzlich wie ausgetrocknet anfühlte, und sie bekam kein Wort heraus.
Ohne ein Zeichen von Ungeduld stand er vor ihr. »Lass dir nur Zeit«, sagte er verständnisvoll, als könne er sich sehr gut in ihre Lage und den Tumult ihrer Gefühle hineinversetzen. »So etwas muss gut überlegt sein. Wenn du mit mir gehst, möchte ich, dass du es
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