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Bedenke Phlebas

Bedenke Phlebas

Titel: Bedenke Phlebas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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wieder auf die
Brücke.
     
    Sie standen im Hochgebirgsschnee und sahen die Mittsommer-Sonne in
ihrem eigenen roten Meer aus Luft und Wolken versinken. Ein kalter
Wind blies ihr das Haar über das Gesicht, Kastanienbraun
über Weiß, und er hob ohne nachzudenken die Hand, um es
zurückzustreichen. Sie wandte sich ihm zu, ihr Kopf schmiegte
sich in seine hohle Hand. Ein kleines Lächeln lag auf ihrem
Gesicht.
    »Das ist vielleicht ein Mittsommer-Tag«, sagte sie. Der
Tag war schön gewesen, die Temperatur immer noch ein gutes
Stück unter dem Gefrierpunkt, aber mild genug, daß sie
hatten die Handschuhe ausziehen und die Kapuzen zurückschlagen
können. Ihr Nacken lag warm an seiner Handfläche, und das
glänzende, schwere Haar strich über seinen Handrücken,
als sie zu ihm aufsah, die Haut so weiß wie Schnee, so
weiß wie Knochen. »Wieder dieser Blick«, sagte sie
leise.
    »Was für ein Blick?« fragte er abwehrend, aber er
wußte es.
    »Der ferne Blick.« Sie nahm seine Hand, führte sie
an ihren Mund, küßte sie, streichelte sie, als sei sie ein
kleines, hilfloses Tier.
    »Nun, so pflegst du ihn zu nennen.«
    Sie sah von ihm weg zu der sich verfärbenden roten
Sonnenkugel, die hinter der Bergkette unterging. »Das ist es,
was ich sehe«, sagte sie zu ihm. »Ich kenne deine Blicke
inzwischen. Ich kenne sie alle und weiß, was sie
bedeuten.«
    Es ärgerte ihn ein bißchen, daß sie ihn für
so leicht durchschaubar hielt, aber er mußte sich eingestehen,
daß sie recht hatte, zumindest teilweise. Was sie von ihm nicht
wußte, war nur das, was er selbst nicht von sich wußte
(aber das, dachte er bei sich, war immer noch eine ganze Menge).
Vielleicht kannte sie ihn sogar besser als er sich selbst.
    »Ich bin nicht verantwortlich für meine Blicke«,
sagte er nach einem Moment und machte einen Witz daraus. »Mich
überraschen sie manchmal auch.«
    »Und was tust du?« Das Glühen des Sonnenuntergangs
rieb falsche Farbe in ihr blasses, mageres Gesicht. »Wirst du
dich selbst überraschen, wenn du hier weggehst?«
    »Warum nimmst du immer als erwiesen an, daß ich
weggehen werde?« Gereizt steckte er die Hände in die
Taschen der dicken Jacke und starrte die Hemisphäre des
verschwindenden Sterns an. »Ich erzähle dir doch dauernd,
daß ich hier glücklich bin.«
    »Ja«, sagte sie. »Du erzählst es mir
dauernd.«
    »Warum sollte ich weggehen wollen?«
    Sie zuckte die Achseln, schob einen Arm durch seinen, legte den
Kopf an seine Schulter. »Helle Lichter, große
Menschenmengen, interessante Erlebnisse, andere Leute.«
    »Ich bin glücklich hier mit dir«, versicherte er
ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Noch in der dicken
gesteppten Jacke wirkte sie schlank, beinahe zerbrechlich.
    Eine Weile schwieg sie, dann sagte sie in ganz anderem Ton:
»… Und das kannst du auch sein.« Lächelnd wandte
sie ihm das Gesicht zu. »Jetzt küß mich.«
    Er küßte sie, umarmte sie. Über ihre Schulter zu
Boden blickend, sah er etwas Kleines und Rotes sich auf dem
zertrampelten Schnee zu ihren Füßen bewegen.
    »Sieh mal!« Er machte sich von ihr los, bückte
sich. Sie hockte sich neben ihn, und gemeinsam beobachteten sie, wie
das winzige, stabförmige Insekt langsam, mühselig über
den Schnee kroch: ein weiteres lebendes, sich bewegendes Wesen auf
dem leeren Gesicht der Welt. »Das ist das erste, das ich gesehen
habe«, erzählte er ihr.
    Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Du siehst nur
nicht hin«, schalt sie.
    Er schaufelte das Insekt mit der Hand hoch, bevor sie ihn daran
hindern konnte. »Oh, Horza…«, sagte sie, und
ihre Stimme versagte an einem kleinen Schluchzen der
Verzweiflung.
    Verständnislos sah er ihren betroffenen Ausdruck,
während das Schnee-Geschöpf an der Wärme seiner Hand
starb.
     
    Die Clear Air Turbulence fiel auf den Planeten zu,
umkreiste die eishellen Atmosphäre-Schichten vom Tag zur Nacht
und wieder zurück und kippte auf ihrer spiralförmigen Bahn
über den Äquator und die Tropen.
    Nach und nach drang sie in diese Atmosphäre ein – Ionen
und Gase, Ozon und Luft. Sie brüllte mit Feuerstimme durch die
dünne Hülle der Welt, flammte wie ein großer,
stetiger Meteorit über den Nachthimmel, dann über die
Sonnenaufgangslinie, über stahlgraue Seen, Tafelberge,
Eisplatten, Eisschollen und Schelfe, gefrorene Küsten,
Gletscher, Bergketten, Permafrost-Tundren, noch mehr zermalmtes
Packeis und schließlich, als sie sich auf ihren
Flammensäulen bäuchlings niedersenkte, wieder

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