Beerensommer
die ihn verwundert ansah und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. »Ganz mit Öl verschmiert bist du hinten am Rücken und deine Kleider und deine Haare sind voll mit Sägemehl«, bemerkte sie und ihre Stimme klang hoch und etwas heiser. »Ist etwas passiert?« Es sei nichts, beruhigte er sie, sie solle sich keine Sorgen machen, er sei nur ausgerutscht.
Er lächelte immer noch, grimmig und verbissen, als er den Nachhauseweg antrat, mit schmerzendem Rücken und einer tief sitzenden Furcht, die er mit diesem Lächeln zu bezähmen suchte. Johannes ist im Krieg, dachte er, und ich führe ab jetzt hier meinen Krieg, einen kleinen und sehr privaten, gegen einen einzigen Feind.
Und diesen Krieg werde ich gewinnen!
21
Er lag ganz still da, lag bewegungslos da mit geschlossenen Augen. Die Geräusche, die aus einem fernen Nebelland immer wieder zu ihm durchgedrungen waren, kamen jetzt näher, fuhren grell in die Ohren. Stimmen, viele Stimmen, dazwischen Schreie, hohe, gellende Schreie und Husten, immer wieder dieser bellende, würgende Husten. Das kam vom Gas, das wusste er. Deshalb machte er auch nicht die Augen auf. Wenn er sie öffnete und diese Dunkelheit bliebe ... Er musste nicht husten, atmete ganz ruhig, also war er nicht in Gas geraten! Aber er war so müde, so unendlich müde und wahrscheinlich war das Öffnen der Lider eine zu große Anstrengung für ihn. Er war zu müde, um die Arme zu heben, er könnte doch sein Gesicht abtasten und nach diesen Blasen suchen, aufgeworfener Haut, die blutig aufplatzte. Die bekam man, wenn man ins Gas geriet, er hatte die Männer gesehen, die aus den Gaswolken kamen, den senffarbenen Wolken. Blind kamen sie gekrochen, schreiend rieben sie die tiefroten Augen, die nichts mehr sahen, und dann kamen die Blasen, brennende schwärende, riesige Blasen überall auf der Haut, selbst unter den Kleidern!
Aber er fühlte nichts, da war kein Brennen, auch die Augen taten ihm nicht weh, nur in der linken Schulter fühlte er einen dumpfen Schmerz. Gleich neben dem Herzen saß dieser Schmerz und er registrierte verwundert das langsame Pochen. Er war nicht tot, war nicht im Himmel, denn dort hätte es die Schreie nicht gegeben und das Röcheln. Und in der Hölle konnte er auch nicht sein, in der Hölle war er schon gewesen. Nein, er lebte, lag irgendwo und hatte panische Angst, die Augen zu öffnen. Der pochende Schmerz in der Schulter nahm zu, unwillkürlich entrang sich ihm ein leises Stöhnen und er versuchte mit unendlicher Anstrengung den linken Arm zu heben, sich anders hinzulegen, um so vielleicht diesem Schmerz entkommen zu können. Aber es ging nicht. Die linke Seite, sein Arm und seine Schulter waren tot, gehorchten ihm nicht mehr.
Plötzlich spürte er einen leichten Lufthauch und dann fühlte er eine heiße, rissige Hand auf seiner Stirn. Offensichtlich stand jemand bei ihm, hatte sich über ihn gebeugt, denn da war auch ein Geruch, es roch nach Schweiß und Kautabak und nach Formalin, so wie Soldaten rochen, wenn sie aus der Desinfektionskammer kamen. Dann nahm er auch die anderen Gerüche wahr, die von überall her auf ihn einströmten, dass er sich verwundert fragte, warum er sie jetzt erst bemerkte. Er roch den Gestank nach Exkrementen, Urin und Blut, süßlich und schwer hing er in der Luft, der Gestank des Todes!
Eine Stimme über ihm, eine kehlige, raue Stimme in einem ihm unbekannten Dialekt sagte plötzlich: »Sieh da, unser Jungchen kommt zu sich.« Und dann lauter: »Schwester, Schwester, der kleine Schwabe wacht auf.«
Wie laut diese Stimme war, sie schnitt förmlich in seinen Kopf hinein und die Geräusche rings um ihn dröhnten auf einmal schmerzhaft in seinen Ohren! Er wollte den Mund öffnen, wollte fragen, doch erschreckt bemerkte er, dass ihm auch seine Stimme nicht gehorchte. Er lag einfach da, ein willenloses Stück Mensch, das ein müder Herzschlag am Leben hielt.
Die Stimme über ihm schien seine Anstrengung bemerkt zu haben, denn sie sagte jetzt leiser und ruhiger: »Lass, Jungchen, hab keine Angst. Hast viel Blut verloren und bist noch zu schwach, aber bald geht’s wieder.«
Auf einmal war noch eine andere Stimme da, eine Frauenstimme, eine merkwürdig tonlose, müde Stimme. Sie war ganz dicht bei ihm, direkt an seinem Ohr, und wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er sich abgewandt, denn der heiße Atem direkt an seinem Gesicht war ihm unangenehm.
»Sie sind Johannes Helmbrecht vom achten Württembergischen Infanterieregiment. Sie sind
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