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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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ihr manches klarer geworden. Auch daher weiß sie, dass dieser Paule damit zu tun hatte. Deshalb fragt sie gleich nach: »Weißt du, was aus diesem Freund, diesem Paule geworden ist? Ich habe in Johannes’ Tagebüchern schon von ihm gelesen.«
    Gretl weiß es. Ganz schlimm sei das für Johannes gewesen: »Ich war damals noch ein kleines Mädchen, hab das nicht richtig verstanden, was dieser Paule ihm bedeutet hat, aber dass Johannes an ihm hing, dass er wichtig war, das habe ich schon mitbekommen. Sie haben sich viele Briefe geschrieben, aber auf einmal blieben Paules Briefe aus. Johannes hat sich große Sorgen gemacht. Und dann kam ein Schreiben aus Berlin, im Frühjahr 1919 muss das gewesen sein. Das war zwar nicht von diesem Paule, aber von seiner Zimmerwirtin, glaube ich. Paule sei tot, stand darin, man solle keine Briefe mehr schicken. Johannes hat dann noch einmal einen geschrieben, hat gefragt, was denn passiert sei.«
    Und die Frau habe tatsächlich geantwortet, erzählt Gretl. Paul Pacholke sei im Januar 1919 bei den Aufständen in Berlin umgekommen. Soldaten hätten ihn erschossen, weil er auf der Seite der Kommunisten, Spartakisten nannte man sie damals, gekämpft hat. Johannes sei ganz außer sich gewesen. Erst habe man Rosa Luxemburg einfach totgeschlagen. Das müsse man sich einmal vorstellen, habe Johannes immer wieder gesagt, eine ganz kleine, aber kluge Frau, wird einfach totgeschlagen, von Männern, starken Kerlen, und dann ins Wasser geschmissen. Und die Regierung schieße auf Arbeiter. Die SPD, eine Arbeiterpartei, ließe auf Arbeiter schießen, die dafür kämpften, dass alles anders wurde, besser wurde – und jetzt hatten sie auch noch seinen Freund, den Paul Pacholke totgeschossen!
    »Furchtbar ist das für ihn gewesen«, erinnert sich Gretl, »aber für die meisten war das eine furchtbare Zeit. Der Krieg verloren, der Kaiser weg und das Geld nichts wert. Viele Leute waren ganz durcheinander, kamen damit nicht zurecht. Und dass Sozialdemokraten an der Regierung waren, das konnten viele gar nicht fassen. Der Johannes sagte damals immer wieder, der Krieg sei trotzdem ganz umsonst gewesen, die Männer seien für nichts und wieder nichts gestorben. Und dann hat er angefangen zu den Kommunisten zu gehen. In Pforzheim hat er regelmäßig deren Versammlungen besucht. Friedrich sagte immer wieder: ›Du spinnst, Johannes, spinnst komplett. Du und die Politik. Du hast doch keine Ahnung.‹ Aber Johannes hat ihm immer widersprochen. Er, Friedrich, mit dem Gerede vom Krieg, den man einfach gewinnen müsse und seinen ›Möglichkeiten‹ ... Da habe er aber sehr danebengelegen! Nein, dieser Paule habe ihm die Augen geöffnet und er sei ihm etwas schuldig und all den Toten auch. Es müsse alles anders werden.«
    Aber es sei noch ein freundschaftlicher Streit gewesen, damals. An ihrer Freundschaft habe sich nichts geändert. Gretl seufzt und knetet die Hände in ihrem Schoß. »Und dann ist es doch ganz anders geworden! Richtig unheimlich ist das für uns gewesen. Plötzlich war der Hass da, richtiger Hass. Ich habe das damals gar nicht verstanden – doch nicht bei Friedrich und Johannes! Aber es war so, nachdem es angefangen hatte mit Marie ...«

27
     
    Johannes betrachtete prüfend sein Kinn im kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Ein schmales Gesicht blickte ihm entgegen, die hellen Haarsträhnen fielen zwar immer noch ungebärdig in die Stirn, aber insgesamt war er zufrieden. Seine Wangen waren voller geworden, er sah auch nicht mehr so mager und knochig aus und es kam ihm sogar so vor, als sei er noch ein bisschen gewachsen; obwohl das wahrscheinlich Unsinn war, denn er reichte Friedrich immer noch gerade bis zur Nasenspitze.
    Er packte das Rasierzeug weg und warf einen vorsichtigen Blick zum Bett herüber, das auf der anderen Seite des schmalen Zimmers unter der Dachschräge stand. Eugen Rentschler, sein Zimmernachbar, lag dort und schnarchte leise im Schlaf. Der hatte es gut, konnte noch länger schlafen, denn er musste nicht auf den ersten Zug nach Pforzheim. Aber wer wollte sich in diesen Zeiten beklagen, wenn man froh sein musste, dass man Arbeit hatte – vielen Menschen ging es im vierten Jahr nach dem Krieg immer noch sehr schlecht. Und im Nachhinein kam es Johannes wie ein kleines Wunder vor, dass man ihn in der Firma Armbruster wieder genommen hatte. Wer brauchte heutzutage denn noch Schmuck und Uhren? Aber offensichtlich gab es genügend Leute, die Geld hatten, solche, die am

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