Beerensommer
ebenfalls in den Mund stopft. In der Stadtmühle hat man sicher gelernt, dass man nichts verkommen lassen darf. Ein weiter Weg war das von der Stadtmühle bis zum »Kasten«, denkt Anna wieder. Gleich nachher muss sie unbedingt in Johannes’ Buch weiterlesen, aber jetzt will sie Gretl noch ein bisschen ausquetschen. Und das tut sie dann auch.
Kurz nach dem Ende des Krieges habe Friedrich mit seiner Mutter und seiner Schwester die Stadtmühle verlassen. Eine kleine Wohnung im Unterdorf, nicht weit weg vom Sägewerk, hätten sie gemietet. Das sei nicht einfach gewesen. Wer einmal in der Stadtmühle untergebracht worden war, habe praktisch ein unsichtbares Mal auf der Stirn getragen. Mit solchen Leuten wollte man nichts zu tun haben. Aber nach dem Krieg sei es den meisten Leuten schlecht gegangen, viele hätten notgedrungen untervermietet und selber auf engstem Raum gelebt, um so etwas zusätzliches Geld hereinzubekommen. Und von Friedrich war bekannt, dass er ein tüchtiger Arbeiter gewesen ist, einer, auf den der Dederer nichts kommen ließ.
»Der Name Weckerlin hatte damals immer noch einen besonderen Klang. Da konnte man Schlechtere bekommen. Einer mit einem Arbeitsplatz war rar in dieser Zeit, denn der Tournier produzierte keine Granatzünder mehr und hatte die Fabrik vorläufig dichtgemacht«, erzählt Gretl. Den Grunbachern sei es richtig schlecht gegangen, aber der Friedrich, der habe den ersten Schritt auf seinem Weg nach oben getan. Sicher hatte es auch geholfen, dass Frau Weckerlin etwas geerbt habe, erst war die Großmutter gestorben und kurz danach der Großvater. Es habe zwar Zank um das Erbe gegeben, aber Frau Weckerlin habe nicht nachgegeben, und als Friedrich seinem Onkel und mehr noch seiner habgierigen Tante mit dem Rechtsanwalt drohte, hätten die schließlich nachgegeben. Sie mussten Frau Weckerlin ihren Anteil am elterlichen Haus ausbezahlen und so konnten sie die Wohnung nehmen und ein paar Möbel kaufen. Es war nicht in der Herrengasse, das nicht, aber es war ein anständiges bürgerliches Haus, in dem sie schlussendlich wohnten.
Schräg gegenüber, bei der Witwe Bott, hatte sich Johannes eingemietet. Er war wieder bei Armbruster eingestellt worden, konnte sogar die Gesellenprüfung machen, und da er jetzt regelmäßig Lohn bekam, hatte ihm die Gemeinde nahe gelegt, sich eine neue Bleibe zu suchen, die Stadtmühle brauchte man jetzt vor allem für Familien, deren Ernährer im Krieg geblieben oder invalide waren.
»Für Mutter und mich war das traurig. Nur noch Frau Mühlbeck und die beiden Buben sind von den ehemaligen Bewohnern übrig geblieben. Guste ist nach der Schließung der Fabrik nach Stuttgart in den Dienst gegangen und die Ahne ist kurz nach Johannes’ Rückkehr gestorben. Ist einfach eingeschlafen auf ihrem Strohsack und nicht mehr aufgewacht. Ich glaube«, fügt Gretl nachdenklich hinzu, »sie hat sich krampfhaft am Leben festgehalten, bis Johannes zurückgekommen ist. Danach konnte sie beruhigt sterben. Aber was immer noch schön war und mich auch getröstet hat – in den Wald sind wir nach wie vor gegangen. Wenn Johannes und Friedrich und auch die Mühlbeck-Buben abends von der Arbeit heimkamen, haben sie uns abgeholt und die Beerenkörbe für uns getragen. Im Sommer haben wir wie früher zusammengesessen, meist auf der Auwiese, bis die Sonne unterging, und haben uns Geschichten erzählt. Und Johannes hat gemalt – schön war das damals, trotz der Not.«
»Es war damals also nach wie vor alles in Ordnung mit Johannes und Friedrich?«, fragt Anna neugierig.
Gretl nickt. »Hätte nicht besser sein können. Obwohl«, sie zögert etwas, »in die Haare gekriegt haben sie sich immer wieder. Aber das war eher ein freundschaftliches Zanken. Ich glaube, Friedrich hat den Johannes nicht richtig ernst genommen – das war ein Fehler.«
»Und worum ging es?«
»Um das Politische. Der Johannes war nämlich Kommunist geworden. Das hing mit diesem Freund in Berlin zusammen, mit dem er im Lazarett gelegen hat.«
Anna nickt, davon weiß sie schon. Dass Johannes Mitglied der KPD war, hat ihr Mama irgendwann einmal erzählt. »Sag bloß niemandem, dass dein Urgroßvater ein Kommunist war!«
Das ist einer der seltenen Momente gewesen, in denen ihre Mutter, schon von der Krankheit gezeichnet, einen Blick in die Vergangenheit zugelassen hat. Diese Bemerkung war allerdings eher ironisch gemeint, aber Anna hat das damals alles schon sehr spannend gefunden. Seit sie die Tagebücher liest, ist
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