Beerensommer
Stück hinunter, dort kam man zur Fichtenschonung, die hinter undurchdringlichem Gestrüpp lag. Dorthin schlug er den Weg ein, dabei immer langsamer werdend. Irgendwie schien dieser Fleck Erde vergessen worden zu sein. Die einstmals angepflanzten Fichten ragten jetzt hoch empor, sie standen so dicht, dass fast kein Tageslicht durchkam, und der Waldboden war gepolstert mit abgefallenen Nadeln und Moos, man ging wie auf einem Teppich. Trotzdem hatten sie als Kinder diesen Ort gefürchtet, einmal, weil es dort so unheimlich dunkel war, zum anderen, weil der alte Mühlbeck den Stadtmühlenkindern mit seinen erfundenen Schauergeschichten Angst gemacht hatte: Die Hexen träfen sich dort in der Nacht und wer sie störe, den verzauberten sie. Auf ewig war man dann in einem Baum gefangen, man brauche sich nur die Stämme anzuschauen, da guckten manchmal lebendige Augen heraus. Später hatte ihm Friedrich erzählt, das seien lediglich Rindennarben oder Astlöcher – aber die aufgeregte Fantasie der Kinder hatte tatsächlich gemeint, die armen Verzauberten in den Stämmen zu sehen, und im Rauschen der Baumkronen hatten sie ihr Stöhnen und Ächzen gehört. Wahrscheinlich hatte Friedrich damals auch recht gehabt mit seiner Vermutung, der Platz sei ideal zum Verstecken von Diebesgut. Der alte Mühlbeck habe ein spezielles Interesse daran gehabt, dass keines der Kinder in die Nähe des Ortes kam.
Der Zauber war verflogen, es gab keine Hexen und Geister, aber es gab etwas anderes, genauso Böses und Bedrohliches, und die Stimmen, die er immer deutlicher hörte, waren menschliche Stimmen!
Er erkannte die Stimme der Frau, sie weinte, und zwischen ihrem Schluchzen hörte er schnell gemurmelte Worte, bittende Worte, so klang es jedenfalls.
Wohl vertraute Stimmen waren es, eine dunkle, die seltsam dumpf neben den hohen Tönen der Frauenstimme klang, die sich auf einmal förmlich überschlug.
Johannes drängte sich durch das Brombeergestrüpp. Die Dornen krallten sich fest an seiner Jacke, fügten ihm blutige Striemen auf Gesicht und Händen zu, aber er spürte es nicht. Die Stimmen kamen näher – er streifte einen Ast beiseite und dann sah er sie!
Sie saßen auf weichen Moospolstern, er hatte einen Arm um sie gelegt und streichelte mit der freien Hand unablässig ihre zuckenden Schultern. Sie hatte ihr Gesicht in seiner Brust vergraben. Die Kleider hatten sie wohl überstürzt wieder übergestreift, wahrscheinlich weil seit einiger Zeit ein frischer Wind aufgekommen war, der in die Kronen der Fichten fuhr und am Himmel die Wolken zusammentrieb. Es war kühl geworden, aber das war wohl nicht der einzige Grund, warum Marie fror.
Johannes sah, wie sie zitterte und die lose übergestreifte Bluse fest an sich zog. Beschwörend sprach Friedrich auf sie ein. Wegen des immer stärker aufkommenden Windes konnte Johannes nicht alles verstehen, aber er schien sie zu ermahnen, vernünftig zu sein, auch sein Name wurde mehrere Male genannt und Johannes hörte plötzlich den ungeduldigen Unterton in Friedrichs Stimme, den er nur zu gut kannte.
Marie schlang plötzlich ihren Arm wieder um Friedrichs Hals, die Bluse verrutschte und Johannes konnte ihre Brüste sehen, diese festen, glatten Brüste, die er manchmal scheu gestreichelt hatte. Auf einmal schrie Marie los, schrie mit hoher, überschnappender Stimme, klammerte sich an Friedrich fest, der sich mit verzerrtem Gesicht abwandte und sich mühte, ihre Arme von seinem Nacken zu lösen.
Da hielt es Johannes nicht mehr aus! Er machte eine unbeherrschte Bewegung, noch unschlüssig, was er jetzt tun sollte, aber er musste Maries Stimme zum Schweigen bringen, er konnte es nicht mehr aushalten! Durch den zurückschlagenden Ast, den Johannes bis dahin festgehalten hatte, wurde Friedrich auf ihn aufmerksam. Genau in diesem Moment schaute er in Johannes’ Richtung. Er wurde starr, völlig starr, schien nicht einmal mehr zu atmen. Marie schluchzte immer noch, hing an seinem Hals; aber dann bemerkte sie Friedrichs verändertes Verhalten. Sie drehte sich ebenfalls um und ihr Blick fiel auf Johannes.
Nur Sekunden dauerte dieser Moment, in dem die drei Personen wie festgefroren schienen, dann ging alles ganz schnell.
»Johannes!«
Wer hatte gerufen? Friedrich, der aufgesprungen war und sich rasch sein Hemd überstreifte? Oder Marie, die jetzt auf dem Waldboden herumkroch, um ihre restlichen Kleider zusammenzusuchen?
Und wieder dieses »Johannes!«.
Er konnte es nicht mehr hören, er musste fort,
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