Beerensommer
sagen, »nehme dich mit auf dem Weg nach oben. Und du gehst auf diese Schule, diese Akademie oder wie das heißt – ich weiß doch, was du willst. Du willst es mehr als Marie und alles andere. Du sollst malen, Johannes ... und ich kaufe dir alle Farben!«
Diesen letzten Satz sagte er plötzlich mit einem Lächeln. Beide lauschten für einen Moment dem Hall dieser Worte nach, eine lieb gewonnene Erinnerung an gute, ferne Tage.
Aber diese vertrauten Worte, diese Erinnerungen machten Johannes plötzlich rasend vor Zorn. Merkte Friedrich denn nicht, was er für immer zerstört hatte? Er begann ihn zu beschimpfen, spie ihm die Worte förmlich ins Gesicht, nannte ihn verkommen und unmoralisch, suchte nach weiteren schlimmen Beleidigungen.
Als er erschöpft Luft holen wollte, fiel ihm Friedrich ins Wort. Er wirkte auf einmal sehr ruhig, fast kühl.
»Gut, ich höre mir das alles an. Aber ist dir einmal in den Sinn gekommen, dass du auch einen Teil Schuld hast?«
Johannes starrte ihn fassungslos an. »Ich soll selbst daran schuld sein, dass du mir mein Mädchen weggenommen hast? Das ist doch der Gipfel!«
»Ach was, rennst herum mit deinen großen Kalbsaugen und kapierst immer noch nicht, wie es zugeht auf der Welt. Stellst das Mädchen auf einen Altar und betest es an wie eine Göttin. Eine junge, gesunde Frau ... Mensch, Johannes, was haben wir nicht alles zusammen durchgemacht? Wir haben gehungert und gefroren und zusammen gelitten. Jetzt wollen wir leben, leben, Johannes! Ich hab doch gedacht, du machst dir nicht so viel aus ihr. Hast sie doch immerzu bloß gemalt. Johannes, wach auf! Lass uns wieder Freunde sein. Wir lassen uns doch nicht wegen einem Weibsbild auseinander bringen!«
Johannes nahm die Kassette fest in beide Hände. Einen Augenblick überlegte er, ob er zuschlagen sollte. Mitten hinein in dieses geliebte, vertraute Gesicht, dieses schöne Gesicht, das er so oft gemalt hatte. Aber es ging nicht – nicht mit dieser Kassette und nicht in dieses Gesicht.
Er wollte wortlos an Friedrich vorbeigehen, aber der hielt ihn an der Schulter fest. »Johannes!«
Er schüttelte die Hand ab. »Lass! Es gibt nichts mehr zu sagen! Du wirst es sowieso nicht kapieren. Alles Gute auf deinem Weg nach oben. Wirst schon noch neue Möglichkeiten finden, wie ich dich kenne.«
»Was ist denn daran verkehrt? Oder soll ich zu euch Spinnern gehen, die abends in den Hinterzimmern der Wirtschaften hocken und von der Weltrevolution träumen? Die laut davon reden, dass man den Reichen den Besitz wegnehmen soll, damit alle gleich viel haben – vielmehr nichts haben, so wie bei deinen Genossen in Russland.«
»Das ist alles, woran du denken kannst. Haben, immer mehr haben. Und deshalb heiratest du Lisbeth und willst noch mehr und immer mehr. Es ist gut, dass es solche Spinner wie uns gibt! Und jetzt verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen.«
»Johannes, warte ...!«
Oben wurde ein Fenster geöffnet und das verhutzelte Gesicht der Witwe Bott wurde sichtbar. »Ruhe da unten! Was ist denn das für ein Lärm, so spät in der Nacht? Ach, Sie sind das, Herr Helmbrecht.«
»Entschuldigen Sie, Frau Bott. Wir sind schon fertig.« Demonstrativ öffnete er die Haustür, er hörte Friedrich noch einmal »Johannes« rufen, dann schloss er die Tür und lehnte sich aufatmend von innen dagegen.
Die Kuckucksuhr in der guten Stube kündigte laut und vernehmlich die zwölfte Stunde an.
Es war Sonntag, der Tag, der der bislang glücklichste seines Lebens hätte werden sollen. Und nun war alles zerbrochen, die Liebe, die Freundschaft. Geblieben war nur die Kassette mit dem Taugenichts und der Traum vom richtigen, vom guten Leben.
33
Es war Mitte September. Die ersten Kartoffeln wurden von den Äckern an den Waldhängen geklaubt. Die Luft roch nach dem Heu, das in großen Ballen auf Leiterwagen in die Ställe gefahren wurde. Das Kilo Brot kostete jetzt eineinhalb Millionen Mark und die Inflation fraß das bisschen Geld, das man auf die Seite gelegt hatte, wie das Feuer die dürren Äste, die man vom Wald heruntergeholt hatte, weil die Abende schon kühl wurden.
Trotzdem wurden die Sorgen der Grunbacher in diesen Tagen überdeckt von einem großen Ereignis, dem man förmlich entgegenfieberte. Eine Hochzeit sollte gefeiert werden, und was für eine – die Hochzeit der einzigen Tochter des Sägewerkbesitzers Louis Dederer.
Die Witwe Bott versorgte Johannes beim Frühstück mit dem neuesten Klatsch. Lisbeth habe ihr Brautkleid extra in
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