Beerensommer
Spitzen. Die hervorquellenden blauen Augen glitten über die gaffende Menge am Straßenrand, alle sollten ihren Triumph sehen. Und dahinter der Brautvater, der alte Dederer, mühsam humpelnd am Stock.
War er zufrieden? Er hatte »sein Sach gerichtet«, wie die Leute es hier nannten. Das Sägewerk war in guten Händen und er hatte für das Glück seiner Tochter gesorgt.
Das Glück? Johannes lächelte spöttisch. Ach, Lisbeth, arme Glotzbeth. Eine Illusion von Glück, vielleicht. Was wohl Emma dachte? Und Frau Weckerlin? Jetzt gehörten sie wieder zur guten Gesellschaft, sogar zur besten. Ein langer Weg aus der Stadtmühle bis hierher!
Aber eines möchte ich doch wissen, dachte Johannes. Wie hoch ist der Preis, den Friedrich bezahlt hat? Was wird er denken, wenn der Pfarrer die Trauformel spricht: » ... lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet ...«
Wird er sich wieder mit Marie treffen – hinter Lisbeths Rücken? Wie hoch ist der Preis, Fritz?
Plötzlich sah er sie hinter der Wegbiegung! Marie ging langsam, sogar langsamer als er, der immer wieder stehen bleiben musste, um leise keuchend Atem zu holen und das Stechen in seiner Brust zu bezwingen. Auf einmal erschien es ihm ganz logisch, dass sie hier oben war. Eine Art Abschied, dachte er. Oder war sie geflüchtet wie er, vor den Glocken, die man sicher bis Hofen hörte, vor den Erinnerungen?
Sie musste ihn wohl gehört haben, denn sie drehte sich um und blieb stehen. Sie blieb stehen und erwartete ihn. Vor diesem Moment hatte er sich gefürchtet und gleichzeitig hatte er ihn herbeigesehnt. Marie wieder zu sehen und zu sprechen, das wog mehr als alle Wut und Trauer. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihn anzusprechen. Schließlich flüsterte sie: »Fast habe ich gehofft, dass du hier oben bist. Du warst letzte Woche nicht im Zug – da hab ich mir Sorgen gemacht.«
Sie hatten seit diesem Julinachmittag nicht mehr miteinander gesprochen. Nur aus der Ferne, beim Einsteigen in den Zug, am Bahnhof hatte er sie täglich gesehen. Sie hatte wohl ein paarmal Anstalten gemacht, auf ihn zuzugehen, aber er hatte sich schnell abgewandt. Aber jetzt war er bereit, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen.
»Ich war krank.« Er deutete auf eine Sitzbank, von der aus man einen weiten Blick über das Tal hatte. Grunbach lag hinter der Wegbiegung und der Blick dorthin war durch hohe Tannen und Fichten verstellt. Man hatte die Illusion, ganz allein zu sein in diesem grünen Meer, das sich vor ihnen ausbreitete.
»Ich fürchte, ich schaffe es gar nicht hoch auf die Ebene. Aber ich wollte unbedingt in den Wald. Schon die Ahne hat immer gesagt, die Luft hier oben sei ein wahrer Gesundbrunnen.«
Marie nickte. »Aber sie kann nicht alles heilen«, flüsterte sie. »Johannes, ich habe mir so oft zurechtgelegt, was ich dir sagen will, wenn wir uns endlich einmal wiedersehen. Doch jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.«
»Lass nur, Marie. Es muss nichts mehr gesagt werden. Du hast dich in ihn verliebt. Das ist kein Verbrechen. Ich verstehe es sogar recht gut.« Johannes lächelte. »Ich habe ihn ja auch geliebt – auf meine Weise. Seine Stärke, seinen Mut und ... ja, auch seine Schönheit. Ich kann dich gut verstehen, Marie.«
»Aber ich habe dich hintergangen. Ich wollte es dir immer sagen, glaube mir. Du bist ... du bist so ein feiner Mensch. Ich mag dich wirklich. Aber das mit Friedrich, das war wie ein Rausch. Ich hab gar nicht mehr denken können.«
Johannes schüttelte den Kopf. Sie tat ihm weh mit jedem Wort, obwohl sie das sicherlich nicht wollte. »Marie, lass es gut sein. So ähnlich hat es mir Friedrich auch gesagt.«
»Er wollte nie, dass wir es dir sagen. Jetzt weiß ich, warum. Er hat es nie ernst gemeint. Ich war nur eine von vielen. Er hatte immer vor, Lisbeth Dederer zu heiraten.« Sie sah ihn von der Seite an.
Statt einer Antwort senkte Johannes den Kopf.
»Wie dumm ich war. Alles kaputtgemacht habe ich. Eure Freundschaft ...«
»Da waren noch andere Dinge, die zwischen uns standen, Marie. Ich hab’s nur nicht wahrhaben wollen. Und ich habe mich in ihm getäuscht. Wir werden darüber hinwegkommen, Marie, man kann auch vieles vergessen.«
Er war selbst nicht von dem überzeugt, was er da sagte! Aber sie sah so unglücklich aus. Schmal war sie geworden und die Augen lagen glanzlos unter bläulichen Lidern. Richtig leer geweint sahen sie aus. Bei seinen letzten Worten huschte ein geisterhaftes Lächeln über ihr Gesicht, es war ein unheimliches Lächeln
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