Beerensommer
gegen eine Wand gelaufen. Zuletzt haben sie dann doch seine Hilfe gesucht, aber da konnte auch Friedrich nicht mehr helfen.« Gretls Stimme scheint sich zu verlieren, die letzten Worte flüstert sie nur noch.
Von draußen hört man plötzlich das Rattern eines Rasenmähers. Der Nachbar von schräg gegenüber arbeitet in seinem vorbildlich gestutzten Garten. Bürgerliche Anständigkeit überall, Kehrwoche und Gartenzwerge und solide Häuser mit Glasbausteinen und Tiroler Holzbalkonen. Eisenbahnwaggons gibt’s keine mehr und sogar die Reihenhäuschen sehen heute nicht mehr nach Armensiedlung aus.
»Aber Friedrich hat ihnen doch geholfen, indirekt und im Hintergrund, das weiß ich genau.« Gretl richtet sich wieder auf und deutet mit der rechten Hand in eine imaginäre Ferne, wo man den »Kasten« vermuten kann, die Villa der Weckerlins. »Bei der Sache mit dem Dynamit zum Beispiel, da hat er schon dafür gesorgt, dass der Johannes nicht zu hart bestraft wurde.«
Die Sache mit dem Dynamit? Für einen Moment ist Anna erstaunt – richtig, da war etwas! Mama hat solche Andeutungen gemacht. »Dein Urgroßvater war sogar einmal im Gefängnis – fast könnte man heute stolz auf ihn sein!« Aber so weit hat sie noch nicht gelesen.
Die Sache mit dem Dynamit! Von wegen Schwarzwaldidylle, denkt Anna belustigt und hört neugierig zu, was Gretl ihr erzählt.
37
Friedrichs Blick schweifte durch das Wohnzimmer. Seit dem Tod seines Schwiegervaters im vergangenen Jahr hatte sich nur wenig verändert. Er wollte die altmodische Polstergarnitur hinauswerfen, aber Lisbeth war strikt dagegen gewesen. Das sei pietätlos, hatte sie gemeint, so kurz nach dem Tod des Vaters. Dabei wäre es Louis Dederer bestimmt egal gewesen, ob seine Tochter und sein Schwiegersohn sich neue Möbel angeschafft hätten!
Kurz nach der Hochzeit war er in seine eigene Welt hinübergeglitten, in der er bis zu seinem Tod verharrte. Der Alkohol habe das Gehirn beschädigt, hatten die Ärzte kühl gemeint, und so hatte man eine Pflegerin eingestellt und auf ein rasches Ende gehofft, das dieses sabbernde, hilflose Geschöpf von dem erlöste, was man kaum mehr Leben nennen konnte. Aber es hatte gedauert, viel zu lange gedauert. Das Herz sei gut, hatten die Ärzte gesagt.
Friedrich war es so vorgekommen, als stemme sich Louis Dederer mit aller Kraft gegen das Sterben, als sei noch ein Funken von Bewusstsein in ihm, der den Tod aufzuhalten suchte.
»Noch ist Zeit«, hatte er damals gesagt. Aber dann war die Zeit doch abgelaufen und er war für immer eingeschlafen.
Friedrich hatte schon einige Tote gesehen, aber als er in das Gesicht seines Schwiegervaters blickte, nachdem er sorgfältig hergerichtet im Wohnzimmer des Hauses aufgebahrt lag, war er doch erschrocken. Das war nicht mehr Louis Dederer. Er hatte Lisbeth abhalten wollen, noch einmal den toten Vater zu sehen. »Du wirst ihn nicht mehr erkennen«, hatte er gesagt, aber sie hatte nicht auf ihn gehört und war, den zweijährigen Louis-Friedrich auf dem Arm, an den offenen Sarg getreten und hatte dort lange verharrt. Merkwürdig, sie schien den Verlust seiner individuellen Züge nicht bemerkt zu haben, war nicht zurückgeschreckt wie Friedrich zuvor. »Wie klein er auf einmal ist«, hatte sie nur gesagt und war dann leise aus dem Zimmer gegangen. Ansonsten hatte sie ihre Trauer mit sich selbst ausgemacht, kaum mit ihm darüber gesprochen, und darüber war er froh gewesen.
Er hätte heucheln müssen, Gefühle vorspielen, die er gar nicht hatte, denn für ihn war der Tod von Louis Dederer die endgültige Befreiung gewesen. Ja, er war damals froh über diesen Tod gewesen, denn dieses hilflose Bündel Mensch dort unter dem Dach flößte ihm auf eine merkwürdige Art und Weise immer noch Respekt ein, obwohl er schon längst der alleinige Herr im Sägewerk und im Haus war.
Bei der Testamentseröffnung war er dann nicht sonderlich überrascht gewesen, als der Notar mit monotoner Stimme den »letzten Willen des Louis Albrecht Dederer« vorlas. Lisbeth war Alleinerbin, es gab eine Reihe ausgeklügelter Bestimmungen, die Friedrichs Zugriff auf das Dederer-Vermögen praktisch unmöglich machten, vor allem im Falle einer Scheidung. In der Erinnerung an diese Szene musste Friedrich höhnisch lächeln. Das war so ganz der Alte gewesen! Bis zuletzt hatte er sein Misstrauen gegen ihn nicht überwunden! Er hörte noch seine Stimme sagen, dass er fürs Sägewerk gut sei, aber nicht für Lisbeth, und er hörte noch
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