Beerensommer
Johannes um die Ecke gebogen kam, die alte, abgewetzte Aktentasche unter dem Arm. Er hat mir zugewinkt und ich habe gebrüllt: ›Der Opa kommt!‹, und bin ihm dann entgegengerannt. Er hat mich hoch in die Luft geworfen und gelacht und ›Da ist ja meine Kleine!‹ gerufen. Und dann musste er mir eine Geschichte erzählen! Das war das Erste, eine Geschichte, noch bevor er gegessen hatte, musste es eine Geschichte sein. Das war schön!«
Daran hat Anna denken müssen, als sie vor diesem Küchenfenster stand. Ganz vorsichtig hat sie an die Scheiben gehaucht und in den geronnenen Lufthauch ein »M« hineintupft, ein »M« wie Marie.
Es hat doch auch Schönes gegeben, denkt sie in diesem Moment. Aber letztlich entzieht es sich uns, das Schöne wie das Hässliche. Was wissen wir noch von diesen Menschen, von ihren Gedanken und ihren Plänen? Die Einzige, die das alles noch unmittelbar miterlebt hat, ist Gretl. Gretl, die immer noch vor ihr steht und sie gespannt ansieht. Was bin ich doch für ein Trampeltier, denkt Anna beschämt. Auf keine einzige Frage antworte ich richtig, lasse die alte Frau da einfach stehen, reiße stattdessen das Fenster auf, obwohl es draußen ziemlich kühl ist.
»Entschuldige«, sagt sie leise, »aber es geht mir so viel durch den Kopf! Richard meint, das Haus muss abgerissen werden.«
Gretl nickt. »Der Holzwurm. Aber der Keller ist noch gut. Darauf kann man noch einmal bauen. Das Fundament hat dein Urgroßvater selber gemauert. Stein für Stein hat er aus dem Wald heruntergetragen und Marie musste mithelfen. Sie haben die Steine zurechtgehauen und mit Mörtel aufeinander gesetzt. Das war eine furchtbare Plackerei.«
»Weißt du, warum er so versessen darauf war, dieses Haus zu bauen?«
Gretl wischt einige imaginäre Staubkrümel vom Stuhl, ehe sie sich schwerfällig darauf niederlässt. »Richtig geredet hat er nie darüber. Die Kinder sollten es einmal besser haben, hat er oft gesagt. Und er hat gut für sie gesorgt. Obwohl er den Georg ...« Sie beendet den Satz nicht. Anna nickt. »Ich weiß. Ich hab’s gelesen. Hat er wirklich dem Friedrich so ähnlich gesehen?«
»Mit jedem Jahr wurde er ihm ähnlicher. Ein bildschöner Junge war das, und so gescheit. Er ist dann auch auf die Oberschule nach Wildbad gegangen. Und wenn ich für das Schulgeld hungern muss, hat Johannes gesagt. Seltsam, er hat alles für ihn getan – aber er konnte ihn einfach nicht gern haben. Und der Junge hat das gespürt, hat gelitten wie ein Hund! Er wusste doch nicht, dass Johannes gar nicht sein Vater war.« Gretls Stimme zittert.
»Und Friedrich? Er musste es doch gewusst haben? Wenn Georg ihm so ähnlich war ...«
»Natürlich hat er’s gewusst, alle haben’s gewusst. Es ist viel geredet worden, damals. Und als er ihn dann einmal gesehen hat – drei oder vier Jahre alt war der Georg und sah genauso aus wie alle Weckerlins. Ich hab ihn in seinem Wägelchen spazieren gefahren und da begegnete mir der Friedrich. Vom Wald ist er heruntergekommen, wer weiß, vielleicht war er wieder mal auf dem Katzenbuckel. Kein Wort hat er gesagt, hat immer nur den Jungen angeschaut und ihm dann ganz vorsichtig über den Kopf gestrichen. Später hat er mich immer gefragt: ›Gretl, wie geht es dem Jungen? Erzähl mir von ihm, Gretl.‹ Und dann musste ich von meinem letzten Besuch bei Johannes und Marie berichten. Alles wollte er wissen. Er hat auch einmal Geld angeboten, ganz am Anfang! Ich musste den Brief mit den Geldscheinen überbringen. Er wolle regelmäßig für den Jungen zahlen, stand da drin. Das Gesicht von Marie werde ich nie vergessen! Sie hat den Brief und die Geldscheine in das Kuvert zurückgesteckt und mir in die Hand gedrückt. Ich soll ihn zurückbringen. Sie wisse nicht, was der Herr Weckerlin mit ihnen zu schaffen habe. Georg sei ihr Kind, das Kind von Johannes und Marie Helmbrecht. Ich denke heute noch manchmal, wenn Marie nicht so verstockt gewesen wäre, wenn Georg gewusst hätte, wenn er verstanden hätte ... – aber es ist zu spät!«
Fast sieht es so aus, als ob Gretl weint. Anna hat jetzt ein richtig schlechtes Gewissen. Ich wühle sie richtig auf mit meiner Fragerei. Dabei hat sie so ein schwaches Herz.
Aber das Angebot, ihre Herztropfen zu holen, lehnt Gretl ab. Die Geschichte mit Georg, das sei etwas, was ihr immer noch an die Nieren gehe, erklärt sie. »Der Friedrich hat’s noch ein paarmal probiert, vor allem, als der Georg dann auf die höhere Schule sollte. Er ist jedoch immer
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