Beerensommer
der Leimenäckersiedlung zum Unterdorf begegnen, begrüßt sie mit großer Herzlichkeit.
Anna wartet jedes Mal geduldig und denkt daran, welche Geschichten wohl noch vor ihr liegen. Allzu viel Zeit hat sie nicht mehr, langsam sollte sie diese Umlaufbahn verlassen und auf den Planeten Erde zurückkehren. Die Anrufe aus Berlin werden immer drängender. Da ist zum einen der Notar, der sie unbedingt wegen der Wohnung sprechen will. Aber auch Pia gibt keine Ruhe. Wie eine Ersatzmama sitzt sie ihr auf der Pelle: Man müsse mal darüber reden, wie es insgesamt weitergehen soll, hat sie beim letzten Telefonat gemeint. Und: »Vergrab dich nicht, Kind!«
Keine Angst, ich geh schon nicht in einem kleinen Dachkämmerchen im Schwarzwald verloren!, denkt sie, so verlockend der Gedanke manchmal auch ist. Berlin, das ist Marie, ihre Mutter. Das sind der Schmerz und die Einsamkeit. Aber meine eigene Geschichte muss auch weitergehen, denkt sie, vor allem seit der Sache mit Fritz. Ich muss mir über vieles klar werden. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist für mich auch eine Art Flucht. Ich muss mein Leben in den Griff kriegen, so schnell wie möglich!
Aber vorher will sie den Rest von Johannes’ Geschichte erfahren, will alles wissen!
Beim Weitergehen kommen sie wieder auf Friedrichs Verhalten zu sprechen. »Aber Friedrich – Friedrich hätte doch nichts zu sagen brauchen, vielleicht wäre man ihnen gar nicht auf die Schliche gekommen.« Johannes ist kein gewöhnlicher Dieb gewesen, der etwas Kriminelles getan hat, davon ist sie überzeugt. Und Johannes und Friedrich, das ist doch immer noch eine ganz besondere Beziehung gewesen.
»Genau das habe ich ihm auch gesagt, als ich zurückgekommen bin an diesem Samstagabend.« Gretl bleibt für einen Moment schwer atmend stehen. Sie sind jetzt am Bahnwärterhäuschen angelangt, das noch bewohnt ist, ansonsten aber keine Funktion mehr hat, weil inzwischen statt der Schranke eine automatische Signalanlage installiert ist. Flüchtig fällt Anna ein, dass das auch der tägliche Weg von Johannes gewesen sein muss, der Weg zum Bahnhof, zur Arbeit und später auch der Schulweg von Marie, ihrer Mutter. Ein paar Schritte vom Häuschen entfernt steht eine alte Holzbank, die noch vom ehemaligen Bahnwärter stammt. Dorthin bugsiert sie Gretl, denn in einem zu sprechen und zu laufen ist zu viel für sie.
»Ich bin wütend an diesem Abend gewesen, so wütend. Die Nachricht kam ins Haus, dass man einige Grunbacher verhaftet hat wegen des Sprengstoffdiebstahls. Am Abend vorher war die Polizei da und danach kam die Abendgesellschaft, das war vielleicht ein Durcheinander! Als die Gäste gegangen waren, schaute Friedrich in der Küche vorbei. Das tat er öfter, dann war er auch nicht mehr förmlich, wir haben uns wieder geduzt und beim Vornamen genannt. Aber wie gesagt, nur wenn wir unter uns waren. Er hatte ziemlich viel getrunken, obwohl das eigentlich nicht seine Art war. Er war so komisch, so rührselig, hat plötzlich von den alten Zeiten und der Stadtmühle angefangen. Und schließlich kam die Bemerkung, dass Johannes das Dynamit gestohlen hat. ›Woher willst du das wissen?‹, hat Mutter gefragt. Sie hat sich schrecklich aufgeregt, aber in dem Moment kam Lisbeth herein, im Morgenmantel und mit dem üblichen weinerlichen Ton: Wo er denn bleibe, sie könne nicht schlafen, und dann ist er nach oben gegangen. Später in der Villa gab’s sogar getrennte Schlafzimmer, das war das Erste, womit er den Architekten beauftragt hat. Danach kam wie gesagt die Nachricht von der Verhaftung, ich bin gleich hinübergerannt zur Siedlung, mit den Resten von der Abendgesellschaft im Korb. Marie saß in der Küche, saß einfach da und sagte nichts, rührte sich nicht, und die Kinder weinten und hatten Hunger. Ich hab sie so gut es ging versorgt, bin wieder zurückgelaufen, und wie ich den Friedrich gesehen habe, er kam gerade vom Kontor herüber zum Haus, bin ich wutentbrannt auf ihn losgegangen. Es war mir in dem Moment egal, ob das jemand mitbekommen hat. ›Du hast den Johannes ans Messer geliefert!‹, hab ich geschrien und er hat mich am Arm gepackt und ins Haus gezogen, in die Küche, wo Mutter hockte und in die Schürze heulte. ›Halt’s Maul!‹, hat er gebrüllt und war ganz weiß im Gesicht. So hat er noch nie mit mir gesprochen. Wir sollten mit dem dummen Geplärre aufhören, hat er gerufen und ist wie ein Wahnsinniger in der Küche herumgerannt. Doch plötzlich wurde er ganz ruhig und hat
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