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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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plötzlich zu schreien, sie schrie, schrie Zeter und Mordio, stürzte auf Pfeifer, auf Maier, fuhr ihnen mit den Fingernägeln ins Gesicht. »Lauf, Johannes, lauf weg, schnell!« Die Kinder begannen zu weinen, kreischend schrie die kleine Anna und Georg wurde von heiserem Schluchzen geschüttelt. Er klammerte sich an Johannes’ Bein.
    Johannes packte Marie bei den Schultern und hielt sie fest. Sie wurde plötzlich ganz ruhig, stand nur schwer atmend da. Pfeifer hatte rote, blutende Striemen im Gesicht, murmelte etwas von »Widerstand gegen die Staatsgewalt«, sah dann aber auf die zwei heulenden Kinder herab und sagte in versöhnlicherem Ton: »Das nützt nun alles nichts, Frau Helmbrecht. Seien Sie vernünftig und packen Sie etwas Waschzeug und Unterwäsche für Ihren Mann zusammen.«
    Behutsam nahm Johannes die kleine Anna auf den Arm und drückte sie innig. Er sah Marie nach, wie sie schleppend und müde zur Haustür schlich, eine schmale, nach vorne gekrümmte Gestalt, die eine unsichtbare, aber viel zu schwere Last trug.

39
     
    »Hat er ihn wirklich verraten?«, fragt Anna. Gretl hängt schwer an ihrem Arm, aber die alte Dame hat darauf bestanden, den Weg zu Caspars zu Fuß zu gehen. »Ist doch nicht weit und meinen alten Knochen tut’s gut, wenn sie wieder einmal bewegt werden. Früher war ich ständig auf den Beinen, ›eine ganz Flinke‹, haben die Leute immer gesagt. Und wenn du dabei bist, hab ich keine Angst hinzufallen.«
    Jetzt schüttelt sie unwillig den Kopf. »Ich hab dir heute Morgen schon gesagt, dass man das so oder so sehen kann! Und wenn du weiterliest, wirst du sicher merken, dass Johannes das später auch anders eingeschätzt hat.«
    Weiterlesen – sie ist noch nicht fertig, das letzte der schwarzen Bücher liegt noch auf dem Nachttisch. Sie hat wieder die halbe Nacht durchgelesen, schlimme Geschichten sind das jetzt, und sie ist ziemlich durcheinander, weil sie auf einmal gar nicht mehr weiß, wie sie das alles einordnen soll. Es gibt nicht schwarz und weiß, hell und dunkel, denkt sie, alles erscheint in einem diffusen Licht. Klar ist nur, dass die Lebensträume von Friedrich und Johannes zunehmend zerbrechen.
    Da ist Friedrich, ein reicher und einsamer Mann, der sich mit Lene und Gretl die Vergangenheit ins Haus geholt hat, wahrscheinlich um durch sie daran erinnert zu werden, dass sich alles gelohnt hat. Die Schatten der Stadtmühle im Haus, aber was ist mit den Schatten der Gegenwart?
    Und dann Johannes, ihr Urgroßvater, zwischen allen Stühlen sitzend, zerrieben im Kampf ums tägliche Überleben, um die Sorge für seine Familie, für den Erhalt des Hauses. Und dann ist da noch die Sehnsucht nach der Kunst, nach der Weiterentwicklung seines Talents. Die Begegnung mit dem Expressionismus hat ihm eine neue Tür aufgestoßen – da ist sie sich, nach allem, was sie gelesen hat, sicher. Aber wie hätte er unter diesen Umständen weiterlernen können? Und dann dieser naiv unbestimmte Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft, gespeist aus den Erlebnissen im Krieg und der Begegnung mit diesem Paule.
    Einige Grunbacher hätten in ihm einen Helden gesehen, hat Gretl heute Morgen beim Frühstück erzählt. Es seien allerdings nur wenige gewesen. Immerhin habe er nach 1933 wegen seiner politischen Einstellung schwer leiden müssen. »Er war doch im ganzen Enztal als überzeugter Kommunist bekannt. Ich kann dir gar nicht mehr sagen, wie oft die SA Hausdurchsuchungen gemacht hat, plötzlich standen sie in der Tür und haben alle Schränke und Kommoden durchwühlt, sogar Dielenbretter herausgerissen und was nicht alles! Nach Flugblättern und verbotenen Schriften haben sie gesucht. Aber er hat damals deiner Urgroßmutter versprechen müssen, dass er aufhört mit der Politik, kurz nachdem er wieder aus Leipzig zurück war. So ganz hat er es allerdings nicht lassen können – sie haben ihn aber nie erwischt. Trotzdem ist er einige Male in Schutzhaft genommenworden, drüben in der Kreisstadt ist er gewesen und einmal sogar für einige Tage in das Konzentrationslager auf den Heuberg gekommen. Aber sie haben ihn immer wieder laufen lassen, wie die anderen auch. Nur den Maier Oskar, den haben sie für ein ganzes Jahr eingesperrt. Ach, es war eine furchtbare Zeit, vor allem für Marie und die Kinder. Immer diese Angst und Ungewissheit!«
    Es geht nur langsam voran, denn Gretl muss immer wieder Pausen machen. Doch sie scheint sich zu freuen, und einige Grunbacher, die ihr auf dem einsamen Weg von

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