Beerensommer
sich zu uns gesetzt. ›Geht das nicht in eure Strohköpfe, warum ich das gemacht habe? Stellt euch einmal vor, das Dynamit wäre tatsächlich benutzt worden, diese hirnverbrannten Idioten hätten es tatsächlich hochgehen lassen. Stellt euch vor, Menschen wären zu Schaden gekommen, wären sogar getötet worden. Und die Polizei hätte den Weg des Dynamits zurückverfolgt – dann wäre es Mord gewesen! Johannes würde wegen Mordes vor Gericht stehen! Wäre euch das lieber?‹«
Gretl nimmt auf einmal Annas Hand und hält sie ganz fest. »Das hat mir damals eingeleuchtet. Johannes hätte das sicher nicht gewollt, davon war ich felsenfest überzeugt. Viel später hat er Friedrich verstanden. Lies du nur weiter! Und noch eines ...« Sie zögert ein bisschen und starrt geistesabwesend dem Zug nach, der gerade Richtung Wildbad an ihnen vorbeidonnert. »Ich weiß nicht, ob es Johannes jemals erfahren hat. Er hat mich nie darauf angesprochen und ich habe damals Friedrich versprechen müssen, auf ewig mein Maul zu halten. Genauso hat er sich ausgedrückt: ›Du hältst in dieser Sache auf ewig dein Maul.‹ Einige Tage später ist er zu mir in die Küche gekommen. Mutter war unten im Keller beim Bügeln und Lisbeth lag wieder einmal mit Migräne im Bett. Ich hatte den kleinen Louis-Friedrich bei mir, er saß auf seiner Bank in der Ecke und hat mit Bauklötzchen gespielt. Ein stilles Kind war das und ich hab mir damals immer schon gedacht, dass er seinen Vater fürchtet. Jedenfalls hat Friedrich die Tür fest hinter sich zugedrückt und mich schwören lassen, nichts zu sagen! Und dann hat er mir erzählt, dass er beim Zinser war und dass alles in Ordnung gehe.«
»Was ging denn in Ordnung, damals, und was hatte der Zinser damit zu tun?«, fragt Anna gespannt.
Jetzt lächelt Gretl ein bisschen. Mit ihrer runzligen, von Altersflecken übersäten Rechten streicht sie sanft über Annas Handrücken. Wie Löschpapier, denkt die, hoffentlich rege ich sie nicht wieder auf ...
Aber Gretl scheint ganz entspannt zu sein. »Beziehungen, Anna, damals lief viel über Beziehungen, mehr noch als heute, obwohl ...« Aber diesen Faden spinnt sie nicht weiter. »Der Zinser war ein Deutschnationaler, ein Kaisertreuer, das wusste jeder in Grunbach. Und er war bekannt mit der Prinzessin Hermine!«
Wer ist denn das schon wieder? Prinzessin Hermine? Ihr ist es ein bisschen peinlich, dass sie keine Ahnung hat, wer das gewesen ist.
»Das ist lange her«, meint Gretl, »uns war sie schon noch ein Begriff. Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath, die zweite Frau von Kaiser Wilhelm II., der im Exil in Holland war. Sie ist häufig in Wildbad zur Kur gewesen und kannte den Hoffotografen Blumenschein und auch den Herrn Zinser – schrieben sich sogar Briefe, hat es geheißen! Jedenfalls hat es der Friedrich geschafft, dass man im Falle dieser ›jungen, irregeleiteten Grunbacher, die doch alle Familie haben‹, etwas tun müsse. Ich hab’s mir extra gemerkt, weil mir die Formulierung so gefallen hat. Und die Aktion habe sich doch auch gegen die Rechtsradikalen, gegen diese braunen Schläger und Krakeeler gerichtet. Die konnte der Zinser nämlich nicht ausstehen. Es sind wohl einige Briefe hin- und hergegangen, aber das Ende vom Lied war, dass Johannes und die anderen nach wenigen Wochen freigelassen wurden. Ein halbes Jahr später ist dann die Verhandlung vor dem Reichsgericht in Leipzig gewesen, das war damals das höchste deutsche Gericht, weil es eben doch Anstiftung zum Hochverrat gewesen ist. Was haben wir gebangt, als der Johannes sich fertig machte für die große Reise. Wann würde er wiederkommen? Aber Gott sei Dank kam er schnell wieder, gleich nach der Verhandlung. Ein Jahr auf Bewährung haben sie bekommen. Das war wenig! Die Urteile gegen die Kommunisten fielen damals normalerweise viel härter aus als die gegen die Rechten. Besonders gegen die Leute von diesem Hitler, von dem bald alle so viel redeten. Ein Schwabenstreich sei es gewesen, hat der Richter gesagt. Und so hat es auch in der Zeitung gestanden, die der Johannes aus Leipzig mitgebracht hat. Ein Schwabenstreich – ganz recht ist ihm das nicht gewesen, obwohl er sich natürlich gefreut hat, dass alles so glimpflich abgegangen ist. Und trotzdem! ›Als ob wir irgendwelche Dorftrottel wären‹, hat er gesagt. Sie seien eben ›jung und verblendet‹, so hat es auch geheißen und – irgendwie hat das ja auch gestimmt.«
So hat also Urgroßvaters erster und Gott sei Dank
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