Beerensommer
bis dahin gewesen ist. Es ist viel Schlimmes vorgefallen«, wirft Christine ein.
»Und, gab es eine Versöhnung?« Anna lässt nicht locker.
»Ich bin bei dem Gespräch nicht dabei gewesen und Johannes hat später nur ein paar Andeutungen gemacht. ›Diese Stunden sind mir heilig‹, hat er gesagt. Ja, sie sind im Guten auseinander gegangen, so viel kann ich sagen. Aber lies weiter, dir wird er’s aufgeschrieben haben.«
Das klingt fast ein bisschen eifersüchtig, so als ob Gretl neidisch wäre, dass Anna die Informationen quasi aus erster Hand bekommt. Aufmerksam betrachtet Anna die alte Gretl. Studiert das runzlige Gesicht mit den sorgsam aufgesteckten, dünnen weißen Haaren. Sie hat Friedrich geliebt, davon ist Anna überzeugt. Hat ihn mit allen Fasern ihres Herzens geliebt, diesen stolzen, schönen, schwierigen Mann. Hat ihn sicher schon seit der Stadtmühlenzeit geliebt, ist dann mitgegangen in seine Häuser, hat seine Frau gepflegt, sein Kind mitaufgezogen, den Haushalt überwacht, seine Hemden gestärkt und seine Schuhe geputzt; alle diese handgearbeiteten, maßgeschneiderten Schuhe, die in einem eigens dafür konstruierten Wandschrank in der Weckerlin-Villa aufbewahrt wurden. »Nur ich durfte sie putzen, ich allein«, hat sie Anna stolz erzählt. Ach, Gretl, was für ein Leben und was für eine Liebe! Er hat dich doch ausgenutzt, du warst seine Erinnerung an die Vergangenheit, sein treu ergebener Schatten, ohne Anspruch auf eine eigene Existenz!
Johannes habe oft geschimpft, hat Gretl einmal zugegeben. Warum sie nicht in die Stadt gehe, als Verkäuferin arbeite, etwas lerne? »Aber mir hat’s bei Friedrich gefallen. Ich hab nicht schlecht verdient und er hat für Mutter gesorgt, auch als sie nicht mehr arbeiten konnte ...«
... und weil du bei ihm sein konntest, ein Leben lang, denkt Anna. Bis zu seinem Tod warst du bei ihm, warst vielleicht am Schluss der wichtigste Mensch in seinem Leben. War es doch ein gutes, ein gelebtes Leben, trotz des Verzichts? Wer will das beurteilen?
In der Zwischenzeit hat sich eine kleine Diskussion entsponnen. Gretl beharrt darauf, dass Friedrich beim Tournier sich dafür eingesetzt hat, dass Johannes dort arbeiten konnte. »Direkt gesagt hat er’s nie – aber Emma ist auch der Meinung gewesen.«
»Unsere gute, alte Emma. Wenn jemand die Freundschaft zwischen Friedrich und Johannes idealisiert und die gesamte Stadtmühlenzeit später verklärt hat, dann war das meine Großmutter. Ganz getraut habe ich ihr in dieser Hinsicht nie!« Christine schwankt zwischen Belustigung und Ärger. Diese Art von Gespräch dürfte schon öfter stattgefunden haben. Gretl jedoch beharrt auf ihrer Meinung.
»Du musst nämlich wissen«, wendet sich Richard an Anna, »dass Johannes kurz nach der Geschichte in Leipzig von Armbruster & Söhne entlassen wurde. Gleich nach der Weltwirtschaftskrise zeigten sich die Auswirkungen auch hier im Enztal, viele Leute verloren ihre Arbeit und zu den ersten gehörte Johannes. Er sei mit seiner politischen Gesinnung und aufgrund seiner Vorstrafe sowieso nicht mehr tragbar für ein solches Unternehmen, hat man ihm bedeutet. War’s nicht so, Gretl?«
Diese nickt zur Bestätigung mit dem Kopf.
»Verstehen kann man’s ja, ein kommunistischer Goldschmied, der Luxusgüter für die Kapitalisten herstellt.« Richard wirkt leicht amüsiert, als Christine ihm unter dem Tisch einen Tritt versetzt. »Er hat doch nicht nur Luxusgüter, wie du es zu nennen beliebst, hergestellt, sondern auch Sachen für ganz normale Leute, Trauringe beispielsweise. Anfang der dreißiger Jahre konnten sich aber die meisten Leute wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht mehr viel leisten und so hatten Armbruster & Söhne schwer zu kämpfen, wie auch der Zinser und der Tournier. Auch Friedrich musste Leute entlassen. Da war es schon ein besonderer Glücksfall, dass der Johannes tatsächlich beim Tournier Arbeit bekam, allerdings keine besonders schöne. Aber nach dem Gott sei Dank nicht allzu langen Intermezzo in der Arbeitslosigkeit war das in Ordnung. Während dieser Zeit musste er nämlich wie viele Grunbacher vom Stempelgeld leben, das kaum für das Allernötigste reichte. Sein neuer Arbeitsplatz war die Gießerei. Das war eine schwere Arbeit, eine richtige Drecksarbeit war das. Noch heute wundere ich mich darüber, wie so ein schmaler, zarter Mann, so ein feinsinniger Mensch, das durchgehalten hat.«
»Was glaubst du, wie froh er damals gewesen ist!« Gretl bekommt richtige rote
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