Beerensommer
kleiner grünlicher Granitblock mit schlichten Metallbuchstaben: »Johannes Martin Helmbrecht«, »Marie Luise Helmbrecht, geborene Oberdorfer« und »Anna Luise Helmbrecht«, meine Großmutter, denkt Anna. Und darunter steht: »Georg Christoph Helmbrecht, gefallen in Russland«.
Da liegen sie, das ist meine Familie! Plötzlich steigen Anna die Tränen in die Augen. Richtig heulen muss sie. Kann man um Menschen trauern, die man gar nicht gekannt hat? Kann man den Verlust von etwas empfinden, das man nie gehabt hat? Aber ich kenne sie doch jetzt, indirekt zumindest. Sie gehören inzwischen zu mir, zu meinem Leben, sind nicht mehr nur namenlose Gesichter auf Fotos, überlegt Anna. Vielleicht weine ich auch einfach um all die vertanen Gelegenheiten, um ihre Leben, diese kleinen Leben voller Sorge und Not, und um ihre Sehnsüchte, die sich nicht erfüllt haben. Und wahrscheinlich weine ich wieder um Mama.
Fritz ist nach einer kurzen Weile hergekommen und nimmt sie sanft in den Arm. Das tut richtig gut, denkt sie und lehnt sich an ihn. Doch dann wird ihr gleich wieder unbehaglich, weil es sie an anstehende Entscheidungen erinnert. Eilig befreit sie sich aus seiner Umarmung. Sie legt die letzten zwölf Rosen und die Lilie auf das Grab.
»Wer pflegt eigentlich die Gräber so schön?«, fragt sie Fritz im Hinuntergehen, auch um ihre Befangenheit zu überspielen.
»Mutter schaut danach und wir haben eine örtliche Gärtnerei beauftragt. Die, in der du die Blumen gekauft hast.«
»Auch unser Grab, das Helmbrecht-Grab, meine ich?«
Fritz nickt. Anna ist ganz erschrocken. Dass sie daran nie gedacht hat! Fritz’ Antwort beruhigt sie etwas: »Keine Sorge, deine Mutter hat jedes Jahr Geld geschickt.«
Ob das auch gereicht hat?, denkt Anna beschämt. Ich muss gleich nachher mit Richard und Christine darüber sprechen!
Am Abend gibt es ein opulentes Essen. Rehrücken mit den unvermeidlichen Spätzle.
»Christine hat sich selbst übertroffen«, sagt Richard zwischen zwei Bissen, »aber es ist ja auch so etwas wie ein Abschiedsmahl. Fritz hat erzählt, dass du so bald wie möglich nach Berlin zurückwillst.«
Obwohl das eine ganz gewöhnliche Feststellung ist, geht Anna gleich in Verteidigungsstellung. Nicht, dass es ihr hier nicht gefalle, aber es sei so viel zu tun in Berlin, den Nachlass müsse sie regeln, eine Sache, von der sie nicht wirklich eine Ahnung habe. Und außerdem könne sie unmöglich Gretl so lange zur Last fallen.
»Geschenkt«, winkt Richard ab. »Du musst dich doch nicht rechtfertigen. Es ist einfach nur so, dass wir uns schon richtig an dich gewöhnt haben.«
Anna registriert, dass Christines Blicke blitzschnell zwischen ihr und Fritz hin- und hergehen. Also hat sie etwas gemerkt! Oder hat Fritz gar was erzählt? Aber der benimmt sich zum Glück ganz normal und unbefangen.
»Ich fahre noch nicht gleich morgen«, sagt Anna. »Irgendwann in den nächsten Tagen. Zuerst will ich noch Johannes’ Aufzeichnungen zu Ende lesen.« Sie berichtet, wo sie gerade stehen geblieben ist.
»Ja, ja, jetzt kommen die schlimmen Geschichten.« Christine seufzt gedankenverloren und Richard steht auf, um das Kirschwasser zu holen. »Das beste Heilmittel gegen zu volle Bäuche und zu dunkle Seelen«, wie er meint.
»Eines möchte ich aber schon vorher wissen ...« Anna zögert etwas. »Haben sie sich denn noch einmal gesprochen, Johannes und Friedrich, meine ich, gab es so etwas wie eine Versöhnung? Friedrich ist doch lange vor Johannes gestorben – kamen sie später doch noch irgendwie zusammen?«
Christine, Richard und Gretl wechseln einen stummen Blick.
»Ja«, nickt Gretl schließlich, »ja, es gab noch einmal ein Gespräch. Die beiden haben sich getroffen unmittelbar vor Friedrichs Tod. Ich weiß das genau, denn ich bin bei Nacht und Nebel hinübergerannt und hab den Johannes aus dem Schlaf getrommelt. ›Komm schnell‹, hab ich geschrien, ›es geht zu Ende. Er will dich noch einmal sehen!‹ Gezittert hab ich, gezittert und gebetet, Blut und Wasser geschwitzt. Was, wenn er nicht mitkommt? Am liebsten, am liebsten ...«
»Am liebsten hättest du ihn hinübergeprügelt«, sagt Richard mit einem leisen Lächeln. »Aber es war dann gar nicht notwendig, Johannes ist freiwillig mitgekommen.«
»Ohne dass ich groß etwas erklären oder ihn gar überreden musste. Er hat sich ohne ein Wort zu sagen angezogen und ist mitgegangen.«
»Was doch erstaunlich ist, angesichts der Tatsache, wie unversöhnlich Johannes
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