Beerensommer
Weckerlin-Villa. Sie half dort aus, wenn eines der Feste anstand, wenn es große Wäsche gab oder ein Großputz zu erledigen war. Aber das war keine Perspektive. Ein knappes Jahr nach ihrer Rückkehr munkelten die Leute, Mühlbecks Guste treibe sich herum. Wer den Vater und den ältesten Bruder gekannt hatte, wunderte sich nicht, allerdings sei die Guste doch eigentlich immer ein ordentliches Mädchen gewesen. Aber jetzt käme die Liederlichkeit auch bei ihr durch.
Johannes, Gretl und Lene verteidigten sie, aber ohne Erfolg. Sie ging, vor allem an den Wochenenden, in die Wirtshäuser und ließ sich von den Männern ein Glas Wein oder auch einen Schnaps bezahlen. Dabei nahm sie auch Dinge in Kauf, die ein anständiges Mädchen weit von sich gewiesen hätte. Aber sie trieb sich nicht herum, war auch nicht »schwer betrunken« oder »schlüpfte mit den Burschen ins Heu«, wie der Dorfklatsch ihr andichtete. Sie wollte heraus aus dem Mief ihrer beengten Existenz, sehnte sich nach einer Familie, einem Mann, zwei, drei Kindern und einer kleinen Wohnung. Guste Mühlbeck, die in der Zwischenzeit dreiunddreißig Jahre alt geworden war, versuchte nur mit aller Kraft, ihrem Dasein so etwas wie einen Sinn zu geben.
»Das ist der falsche Weg«, hatte Lene immer wieder streng zu ihr gesagt. »Einen anständigen Mann lernst du so nicht kennen!« Und Lene musste es wissen. Aber es hatte nichts genutzt. Guste ging weiter in die Wirtshäuser, träumte und hoffte.
An einem Abend im Herbst ’34 kam Frieda Mühlbeck, Ottos Frau, ganz aufgelöst herübergerannt. Johannes, Marie und die Kinder saßen gerade beim Abendbrot. Sie hätten Guste geholt, heute Mittag, und seitdem sei sie nicht mehr nach Hause gekommen.
Wer Guste geholt habe, wollte Johannes wissen.
Vom Rathaus sei einer da gewesen und einer, der gesagt hatte, er arbeite beim staatlichen Gesundheitsamt. Ach ja, und die Gemeindeschwester war auch dabei, die habe sie beruhigt, sie käme vom Herrn Pfarrer und alles sei in Ordnung. Unten an der Straße habe ein Auto gewartet, da habe einer in SA-Uniform dringesessen. Guste müsse zu einer Untersuchung ins Krankenhaus, sie hätten sich zwar alle gewundert, aber wenn es doch sozusagen amtlich sei! Aber jetzt käme sie einfach nicht zurück und Otto und sie, sie wüssten nicht, was sie tun sollten.
Johannes hatte in diesem Moment eine Ahnung beschlichen, eine fürchterliche Ahnung, die er gleich wieder weggeschoben hatte. Doch nicht Guste! Er musste leichenblass geworden sein. Marie sah ihn den ganzen Abend besorgt an und auch die Kinder waren sehr still geworden.
»Geh heim, Frieda, und schau nach deinen Kindern. Und beruhige dich, es wird schon nichts passiert sein. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.«
Für die Menschen in der Leimenäckersiedlung war Johannes so etwas wie eine Autorität und eine Vertrauensperson geworden. Er war gescheit, viel gescheiter als sie, und er war mutig, das wusste man und deshalb respektierte man ihn vorbehaltlos.
»Was glaubst du, was passiert ist?«, hatte Marie ihn leise gefragt, als er den ganzen Abend ruhelos in der Küche auf und ab ging. Die Kinder hatte man hinaufgeschickt. Aber er wollte ihr seinen Verdacht nicht mitteilen. Später war er zu seinen Kameraden gegangen, zum Maier Oskar und ein paar anderen, keiner wusste etwas, aber jeder vermutete das Gleiche. Im Dorf hatte es schon zwei Fälle gegeben. »Aber doch nicht Guste, nicht Guste«, hatte er immer wieder fassungslos gesagt.
Nach ein paar Tagen war sie zurückgekommen, das Auto hatte sie bis zur Wegkrümmung gefahren und sie war ausgestiegen. Sie schien Schmerzen zu haben, denn sie ging leicht nach vorne gebeugt und auf ihrem Gesicht lag ein stumpfer Ausdruck des Leidens. Was denn mit ihr geschehen sei, wollten alle wissen, stürmten auf sie ein – auch Johannes war eilends herübergekommen.
»Irgendeine Operation, ich weiß nicht«, hatte sie dumpf geantwortet und den Kopf im Kissen ihres schmalen Bettes vergraben. So hatte sie dagelegen, tagelang, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte Papiere dabeigehabt, amtliche Papiere mit Stempel und Unterschrift. Es hatte alles seine Ordnung gehabt. Stempel und Unterschrift waren da, vom Herrn Ortspfarrer, vom Doktor, vom Bürgermeister; und aus diesen ordentlichen und gestempelten Papieren ging hervor, dass man Auguste Viktoria Mühlbeck gemäß dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisiert hatte. Im beigefügten Gutachten war von »erheblicher familiärer
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