Beerensommer
durchzogen war. Vor Kurzem war hier wahrscheinlich Langholz abtransportiert worden, bestimmt für das Sägewerk Dederer & Söhne. Friedrichs Grund und Boden, auf dem wir hier laufen, dachte Johannes bitter, eigentlich sind das seine Beeren, die wir essen.
»Ein Glück, dass meine Schwiegereltern das nicht mehr erleben müssen«, sagte Emma in diesem Moment leise. »Meine Schwiegermutter ist ’33 ganz überraschend gestorben. Siegfried meint immer noch, an gebrochenem Herzen. Vater haben wir letztes Jahr zu Grabe getragen. Er hat noch mitbekommen müssen, wie viele seiner Freunde aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Angesehene Lehrer und Professoren sind das gewesen, Johannes, und dann ’35 – diese Gesetze! ›Bürger zweiter Klasse sind wir, Emma‹, hat er immer gesagt. ›In unserem eigenen Land! Und vielleicht sind wir bald Schlimmeres!‹«
Sie blieb plötzlich stehen. »Mein Schwiegervater hat im Krieg als junger Leutnant gekämpft. Hat Kopf und Kragen riskiert für Deutschland. Hat das Eiserne Kreuz bekommen. Ich bin nur froh, dass er das alles nicht mehr erleben muss.«
»Und wie geht es deinem Mann?«, fragte Johannes zögernd.
Emma sah starr auf die Straße. Kleine Staubwölkchen flogen auf und überzogen ihre feinen Lederschuhe mit einem dünnen Film. »Eigentlich darf ich nicht darüber sprechen. Aber dir vertraue ich, Johannes. Ich weiß, auf wessen Seite du stehst.« Sie sah ihm ins Gesicht und hielt seinen Blick fest. »Siegfried ist weg, Johannes. Illegal, über die französische Grenze. Und soll ich dir etwas sagen ...« Ihre Stimme zitterte. »Ich bin so froh, bin so dankbar. Siegfried ist in Sicherheit!«
»Aber wie habt ihr das angestellt?«, fragte Johannes mit angehaltenem Atem.
Trotz der Tränen in ihren Augen musste sie lächeln. »Friedrich steckt dahinter, wer sonst? Er hat das vorbereitet. ›Siegfried muss weg‹, hat er gesagt. ›So schnell wie möglich. Da ist etwas im Busch!‹ Du weißt ja, dass er gute Beziehungen hat. Die Reisepässe der Juden sollten bald eingezogen werden. ›Dann sitzt du in der Falle, Siegfried‹, hat Friedrich gemeint. Aber Siegfried wollte nicht. ›Was soll mit Emma und der Kleinen geschehen? Ich kann sie doch nicht mitnehmen ins Ungewisse.‹ Friedrich hat ihn beruhigt, er kümmere sich um uns. Meine Tochter ist Halbjüdin, Johannes, auch sie ist in Gefahr. Siegfried hat dann eingesehen, dass es besser ist, wenn wir zu Friedrich gehen. ›Friedrich hält seine Hand schützend über euch, der Schwester und der Nichte des angesehenen Friedrich Weckerlin tun sie nichts‹, hat Siegfried noch gesagt. Und dann ist er gegangen.« Sie hält für einen Moment inne und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Seit diesem Sommer hat er Berufsverbot. Alle jüdischen Ärzte und Rechtsanwälte haben ihre Zulassung verloren. Schon vorher ging es uns schlecht. Es kamen doch kaum noch Klienten. Erspartes haben wir nicht sehr viel. Vieles ging für die Bilder und Vaters Erstausgaben drauf. Das meiste haben wir in den letzten Jahren verkaufen müssen, Stück für Stück. Für ein Spottgeld, Johannes. Oh, die meisten Leute wussten genau, dass wir verkaufen mussten, dass wir keine Wahl hatten. Was ich da erlebt habe, Johannes!« Sie schluckte und starrte für einen Moment mit zusammengezogenen Augenbrauen in eine imaginäre Ferne. »Jetzt haben wir buchstäblich nichts mehr. Alles verschleudert, die Praxis aufgelöst, die traditionsreiche Rechtsanwaltspraxis Löwenstein, die schon in der vierten Generation bestand. Und jetzt ist Siegfried gegangen. Ist vor ein paar Tagen im Elsass über die Grenze. Ein mit Friedrich befreundeter Holzhändler hat das arrangiert. Und ich lebe jetzt mit meiner Tochter bei Friedrich. Siegfried will uns nachholen, sobald er sich eine einigermaßen gesicherte Existenz aufgebaut hat.«
»Ist deinem Herrn Bruder in der Zwischenzeit nicht klar geworden, auf was für ein verbrecherisches Gesindel er sich da eingelassen hat?« Johannes konnte die Frage nicht zurückhalten, obwohl er sah, dass Emma ziemlich aufgelöst war.
Sie nahm auf einmal seine Hand und plötzlich schienen die Jahre wie aufgehoben. Sie war wieder die kleine Emma, die ihm etwas anvertraute, die sich über ihren großen Bruder beklagte. »Als wir gemerkt haben, dass Friedrich sich mit den Nazis eingelassen hat, dass er sie finanziell unterstützt, da haben wir jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Er hat sehr darunter gelitten, aber Siegfried und mehr noch mein Schwiegervater
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