Beerensommer
Amerika den Krieg erklärt und Johannes hat sich und Marie Mut gemacht: »Jetzt geht es nicht mehr lange. Das ist doch der komplette Wahnsinn. Bald muss Hitler kapitulieren!« Daran haben sie sich geklammert. Und dann ist eines Abends Georg nach Hause gekommen, bebend vor Zorn und so aufgebracht, wie ihn Johannes noch nie zuvor gesehen hat.
»Wer ist mein Vater? Ich will auf der Stelle wissen, wer mein Vater ist!«, hat er gebrüllt. »Ich habe eure Lügereien so satt!« Einige in der HJ machten seit einiger Zeit blöde Anspielungen, hat er erzählt, als er sich etwas beruhigt hatte. Er habe sich ein paar gepackt und es aus ihnen herausgeprügelt. Deren Eltern hätten Andeutungen gemacht seit der Schlägereien wegen des Liedes mit dem Judenblut. Ein paar der Jungen seien auch auf ihn neidisch gewesen, weil die Mädchen hinter ihm her waren. »Ganz der Vater«, hätten die Eltern gesagt und vielsagend gelächelt. Und so sei es mit der Zeit herausgekommen, wer in Wirklichkeit sein Vater war. Es sei unheimlich gewesen, hat Johannes geschrieben, den Jungen dort stehen zu sehen und ihn immer wieder fragen zu hören: »Es stimmt also wirklich, dass Friedrich Weckerlin mein Vater ist?«
»Und ich konnte es ihm immer noch nicht sagen«, schrieb Johannes. »Ich bin wie vom Donner gerührt gewesen. Marie musste es tun, aber die hat bloß dagesessen. Kreidebleich hat sie dagesessen und kein Wort gesagt. Nicht einmal jetzt habt ihr den Mut, mir die Wahrheit zu sagen!, hat Georg dann gebrüllt.« Johannes hat auf einmal den Wunsch verspürt, ihn in den Arm zu nehmen, er hatte plötzlich ein ungeheures Verlangen, diesen Jungen zu trösten. Anna liest noch einmal die Stelle: »Ich bin auf ihn zugegangen, aber er hat mich zurückgestoßen. Hat mir einen heftigen Stoß vor die Brust gegeben, sodass ich taumelte. ›Fass du mich nie wieder an, hörst du, nie wieder fasst du mich an!‹ Dann ist er hinausgestürmt und hat die Tür krachend hinter sich zugeschlagen. Es war zu spät.«
Sie hätten noch ein paarmal versucht, mit ihm zu reden, aber er sei immer sofort weggerannt.
»Wenig später haben wir morgens das leere Bett und einen kurzen Brief vorgefunden. Er hatte sich freiwillig gemeldet, weil er mit uns nicht mehr unter einem Dach leben wollte, und wir sollten Anna grüßen. Marie ist vor Sorge fast verrückt geworden. Dann ist eine Postkarte aus dem Allgäu gekommen, aus Bad Wurzach. Er sei dort zur Ausbildung und bald gehe es los. Aber wohin, das war unsere bange Frage. Und dann hat Marie ihre Idee umgesetzt. Hat ihren Stolz überwunden, um ihren Sohn zu retten, aber es ist vergeblich gewesen.«
Das ist auch so eine Sache, denkt Anna. Seit der letzten Nacht grübelt sie ständig darüber. Wie viel Überwindung muss es meine Urgroßmutter gekostet haben, an Friedrich Weckerlins Tür zu klopfen? Johannes schreibt wenig darüber, Marie scheint ihm kaum etwas erzählt zu haben und wahrscheinlich hat er auch nicht nachgefragt. Anna versucht sich die Szene vorzustellen. Standen sie im Arbeitszimmer oder im so genannten Salon mit dem scheußlichen Kamin? Hat sie es ausgesprochen, zum ersten Mal ausgesprochen? »Georg ist dein Sohn – du musst ihm helfen!« Oder hat sie als selbstverständlich vorausgesetzt, er wisse es, dass sie ihn gleich mit ihren Bitten bedrängt hat? »Du musst ihm helfen! Du kennst doch so viele Leute, wichtige Leute. Schreib denen! Schreib ihnen, dass er nicht an die Front muss, nicht nach Russland. Er ist so begabt. Er kann doch vielleicht Verwaltungsarbeiten machen oder im Lazarett helfen. Er darf nicht geopfert werden, er ist so klug!«
Und was hat Friedrich ihr gesagt? Hat er sie beruhigt, zu trösten versucht? Hat er die Wahrheit gesagt? Aber welche Wahrheit – dass Zigtausende, Millionen geopfert wurden, so viele Kluge und Begabte, so viele Jungen wie Georg? Oder dass die immer schneller rasende Maschinerie des Krieges auch von einem Friedrich Weckerlin nicht mehr angehalten werden konnte? Er würde es versuchen, auf jeden Fall, das hat er wahrscheinlich gesagt.
»Er hat Briefe geschrieben, viel telefoniert«, hat ihr Gretl heute Morgen beim Frühstück erzählt. »Als Marie weggegangen ist, hat er sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und gleich zu telefonieren begonnen. Ich hatte damals gar nicht gemerkt, dass Marie gekommen war. Vielleicht haben sie sich schon vor dem Haus getroffen oder er hat sie selbst hereingelassen, ich weiß es nicht. Ich saß jedenfalls in der Küche und putzte
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