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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Fahrrad recht flott die steile Straße hinunter.
    Anna schiebt vorsichtig die quietschende Gartentür auf und geht hinter das Haus, wo die alte, wacklige Bank und der Tisch stehen, an dem ihr Urgroßvater so oft gesessen hat. Hier haben sie ihn verhaftet, denkt sie unwillkürlich. Wie oft haben sie hier wohl zusammengehockt, Johannes, Marie und die Kinder, in guten wie in schlechten Zeiten? Es gab ja auch fröhliche Stunden, sie haben gelacht, erzählt und den sauren Most getrunken, der hier so eine Art Nationalgetränk ist. Jetzt werde kaum noch gemostet, hat ihr Richard erzählt. »Keiner macht sich mehr die Mühe – heutzutage geht man in den Supermarkt und kauft irgendeinen billigen Wein.«
    Vielleicht saßen sie hier auch zusammen, als die Nachricht vom bevorstehenden Krieg über sie hereinbrach. Sie setzt sich und legt vorsichtig das Buch auf den Holztisch.
     
    »Krieg«, hat Johannes geschrieben, »es wird Krieg geben! Spätestens seit August 1939 ist das auch den letzten Zweiflern klar geworden. Neben den Jungen werden auch die Vierzig- bis Fünfundvierzigjährigen eingezogen, die, die also schon im ersten Krieg 1914–18 gekämpft haben. Am Rathausplatz kommen sie zusammen und dann werden sie mit Bussen zu ihren Einheiten geschafft. An mir geht der Kelch vorüber, weil ich mit meinen Herz- und Lungenproblemen ausgemustert worden bin. Friedrich, der so gut Freund mit den Nazis geworden ist, wird selbstverständlich UK, unabkömmlich, gestellt. Der Herr Sägewerksdirektor leitet schließlich einen kriegswichtigen Betrieb. Keiner jubelt, es herrscht eine gedrückte Stimmung. Bald fliegen die ersten Flugzeuge über Grunbach, es sind französische Aufklärungsflugzeuge, Gott sei Dank fallen in dieser Zeit noch keine Bomben. Und wieder werden Lebensmittelkarten ausgegeben und der Tournier stellt wie damals auf den Bau von Zündern um. Oh, das kennen wir alles, kennen wir zur Genüge.
    ›Was meinst du, wie lange wird der Krieg gehen?‹, fragt Marie jeden Tag. ›Wenn nur unser Junge nicht fortmuss, das würde ich nicht ertragen.‹ Immer wieder schöpft sie Hoffnung. ›Es geht voran. Bald muss doch der Krieg aus sein. Der Hitler hat jetzt sicher genug. Was meinst du, Johannes?‹
    Ich bin mir nicht so sicher. Gut, er hat einen Pakt mit Russland geschlossen, schlimm genug, für mich und die Genossen. Aber einer wie Hitler hält sich nicht an Verträge. So hoffen und beten wir, wir bespannen Holzrahmen mit Packpapier und stellen sie griffbereit an die Fenster, um notfalls das Haus schnell verdunkeln zu können. Wir passen auf wie die Schießhunde, dass nachts keiner das Gemüse aus dem Garten stiehlt, denn das kommt häufig im Schutz der Verdunklung vor. Wir hören die Nachrichten, eine Siegesmeldung jagt die andere, zuerst Polen, dann Dänemark, dann Norwegen. Im Mai ’40 beginnt der Krieg gegen Frankreich, Belgien und Holland. Ein Jahr später greifen die deutschen Truppen Jugoslawien und Griechenland an. Und jeden Tag betet Marie: ›Lieber Gott, lass ihn genug haben. Es muss aufhören, mach, dass unser Georg nicht in den Krieg muss.‹
    Ich sitze jeden Abend vor dem Volksempfänger, das Ohr an den Lautsprecher gepresst, und höre von schrecklichen Kämpfen und Gräueltaten. Ich will Marie nicht beunruhigen, erzähle nur wenig, aber insgeheim denke ich immer dasselbe: Wenn das Blut der Unschuldigen über uns kommt, dann werden wir die Hölle schon hier erleben.
    Und Hitler hat nicht genug, noch lange nicht. Wie ich befürchtet habe, greift er im Juni ’41 die Sowjetunion an und kurz darauf bekommt Georg seinen Musterungsbescheid. Marie rennt tagelang heulend durchs Haus und Anna isst fast nichts mehr.
    ›Wir müssen etwas tun, überleg doch‹, sagt Marie immer wieder. ›Wir müssen verhindern, dass er an die Front kommt.‹ Was soll ich tun? Ich, ein ortsbekannter Kommunist und Regimegegner? Aber irgendwie klammert sie sich an den Gedanken und auf einmal wird sie ruhiger, sie hat eine Idee, das merke ich, und ich habe auch eine Vermutung, in welche Richtung diese Idee geht.
    Georg scheint das alles nicht viel auszumachen. Die Dorfjugend betrachtet den noch fernen Krieg mehr als ein Abenteuer, als eine Fortsetzung ihrer Geländespiele in der HJ. Sie treffen sich, poussieren mit den BDM-Mädchen, nutzen die Verdunklung für ihre Streiche, und zudem ist Georg mit der Vorbereitung auf das Abitur beschäftigt. Wir haben weiterhin heftige Dispute, er provoziert mich mit seiner aufgesetzten und übertriebenen

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