Beerensommer
auf weiß geschrieben steht? Oder liegt es daran, dass es einfach passt, einer inneren Logik folgt, die in den betreffenden Personen angelegt zu sein scheint?
Ach, Mama, das ist es also gewesen. Immerhin ist einer dieser losen Fäden nun verknüpft in diesem seltsamen Gewebe, das ihre Familiengeschichte darstellt. Aber sie will diese letzten Seiten jetzt noch einmal in aller Ruhe lesen, will genau hinsehen, vielleicht auch die feinen Untertöne heraushören, die Johannes – vielleicht unbewusst – hineingelegt hat. Wie ist das damals für ihn gewesen? Was hat er empfunden? Auch noch Anna zu verlieren, das Kind, das ihnen geblieben war, die geliebte Tochter, Anna, ihre Großmutter, die dort oben in der kühlen Erde ruht? Gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt ist sie geworden, so viele aus dieser Generation sind jung gestorben, Leben, die zerbrochen wurden vom Krieg, von der Gewalt. Und in Annas Fall? Vielleicht war es hier das Schicksal, denkt ihre Enkeltochter. Oder ist das ein zu großes Wort? Vielleicht war es dieselbe unerbittliche Logik, die auch die anderen so handeln ließ und der sie sich nicht entziehen konnte.
Anna will gerade die alte Gartentür öffnen, die so jämmerlich schief in den Angeln hängt, als ihr eine Frau entgegenkommt. Sie schiebt ein Fahrrad mit einem großen Einkaufskorb auf dem Gepäckträger. Anna überlegt. Wo habe ich diese Frau schon mal gesehen? Wo bloß? Sie scheint aus einem der älteren Häuschen gekommen zu sein, die am Waldrand aufgereiht wie Perlen einer Kette gegenüber vom Urgroßvater-Haus stehen. Plötzlich fällt es ihr ein. Es ist dieselbe Frau, die sie auf dem Friedhof getroffen haben.
»Eine aus der vielköpfigen Dynastie der Mühlbecks«, hat ihr Fritz später grinsend erklärt, »eine Otto-Enkeltochter, um genau zu sein. Beide, Otto und Ernst, haben jeweils eine stattliche Kinderschar hinterlassen. Ernst ist ’45 aus Stuttgart zurückgekommen, als er ausgebombt worden war. Und so ist Grunbach bevölkert von Otto- und Ernst-Nachkommen. Alle sehr rechtschaffene Leute. Fast jeder hat ein eigenes Haus. Und Frieda Mühlbeck, die Frau von Otto, lebt sogar noch auf den Leimenäckern, sie ist sehr hinfällig, wird aber hingebungsvoll von den Kindern und Enkeln betreut. Zusammenhalten tun sie wie Pech und Schwefel.« Er hat ihr dann noch erzählt, dass der älteste Sohn von Otto »leider die unglückliche Mühlbeck-Tradition fortgesetzt hat. Zu viel getrunken und auch kriminell geworden. Er hat sich dann in der Gefängniszelle erhängt. Aber die anderen sind, wie gesagt, sehr anständige und fleißige Leute geworden.«
»Und die Eisenbahnwaggons?«, hat Anna ihn gespannt gefragt.
»Sauber und solide ummauert. Otto und Ernst haben jeweils ihre Häuschen drum herum gebaut. Das eine ältere Haus mit den grünen Fensterläden, das gegenüber von eurem steht, hat Otto gehört und dort lebt jetzt noch Frieda.«
Die Frau ist näher gekommen und grüßt Anna sehr freundlich.
Hoffentlich verstehe ich alles, was sie sagt, denkt Anna beklommen. Aber es geht dann sehr gut, denn die Frau gibt sich große Mühe, hochdeutsch zu sprechen, auch wenn es etwas merkwürdig klingt. Anna muss sich ab und zu ein Lächeln verkneifen. Doch die Frau, sie stellt sich als Waltraud vor, scheint sich richtig zu freuen. »Deine Mutter habe ich gut gekannt«, erzählt sie eifrig. »Wir sind miteinander in die Volksschule gegangen.«
Also ist sie so alt wie meine Mama, obwohl sie viel älter aussieht, denkt Anna unwillkürlich. Ihre Mutter hat immer sehr jugendlich gewirkt, hat sich auch immer modisch gekleidet, diese Waltraud macht einen ziemlich trutschigen Eindruck in dieser scheußlichen senffarbenen Hose und der Kartoffelsack-Bluse. Und dann die Frisur! Aber sie hat ein sehr freundliches Wesen und strahlt Anna geradezu an. Ob sie etwas von Guste hat? Vielleicht lebt irgendetwas von Guste in ihr weiter, die Augen, der Mund, vielleicht auch die Wärme und die Herzlichkeit, die von ihr ausgehen. Auf einmal empfindet Anna eine richtige Freude. Wie hat Johannes nach ihrer Geburt zu Gretl gesagt? »Es geht weiter.« Das ist doch ein tröstlicher Gedanke, und Guste würde sich bestimmt sehr freuen, wenn sie alle ihre Nichten und Neffen und deren Kinder sehen könnte.
Sie müsse sie unbedingt besuchen, sagt Waltraud und beschreibt weitschweifig, wo sie wohnt. Die alte Gretl solle sie herzlich grüßen, sie schaue bald wieder einmal herein, und dann drückt sie Anna die Hand und fährt auf ihrem
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