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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Begeisterung für den Führer und schreibt einen grauenhaften Aufsatz zum Thema ›Der Heldentod, das ist der schönste Tod‹. Das Schulheft legt er demonstrativ auf den Küchentisch, damit ich sein Geschreibsel ja nur lese. Aber einmal habe ich gemerkt, dass er vieles kritischer sieht, als er mir gegenüber vorgibt! Kurz nach dem Einmarsch in Frankreich ist Gretl heulend herübergerannt gekommen. Ein Brief sei gekommen, sie wisse gar nicht genau, von wem. Aber eines sei sicher, Siegfried Löwenstein habe sich umgebracht. Tabletten habe er genommen und einen Abschiedsbrief für Emma und Aurelie hinterlassen. Friedrich laufe herum wie ein Gespenst. Die letzten Nachrichten aus Paris hatten ihn beunruhigt, Siegfried habe so mutlos geklungen. Aber dass er so verzweifelt gewesen ist! Er mache sich große Sorgen um Emma, hoffentlich begehe sie keine Dummheiten.
    Emma lebt mit Aurelie seit Kriegsausbruch in der Schweiz, angeblich ist sie dort zur Kur. Laut Gretl bezahlt Friedrich ein Heidengeld für den Sanatoriumsaufenthalt in Davos, der wegen Emmas ›angegriffener Gesundheit‹ immer wieder verlängert wird.
    Ich erinnere mich genau daran, dass Georg Gretls Erzählung damals wortlos zugehört hat. Später ist mir zugetragen worden, dass er am selben Abend während des üblichen HJ-Treffens plötzlich ›randaliert‹ habe. Wie ein Berserker ist er hineingefahren in die Gruppe seiner Kameraden und hat sich mit ihnen geprügelt. Sie haben nämlich ein damals sehr populäres Lied gesungen:
     
    ›Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt,
    dann geht’s noch mal so gut,
    haut se, haut se in die Schnauze ...‹
     
    Ob er besoffen sei, hat der Fähnleinführer an diesem Abend geschrien und Gott sei Dank haben es die anderen nicht weiter tragisch genommen. Aber von diesem Zeitpunkt an ist er stiller geworden und mehr in sich gekehrt.
    Bald treffen in Grunbach die ersten Todesnachrichten ein. Im April 1941 fällt der erste Grunbacher in Nordafrika und dann geht es Schlag auf Schlag und meistens steht die Ortsangabe ›Russland‹ dahinter – Orscha, Russland; Witebsk, Russland; Alexandrowska, Russland; Tschernysch, Russland; Kusowjewo ... Es war wie damals im ersten Krieg – unbekannte Orte, deren Namen nicht auszusprechen waren, Orte, ferner als der Mond, und dort sterben unsere Söhne. Und dann bricht die Katastrophe auch über uns herein!«
    Seufzend legt Anna das Heft zurück und lässt den Blick über die Rückwand des Hauses bis zu den grünen Hängen des Eibergs schweifen. Dort an der Ecke hat früher ein Hasenstall gestanden, hat Richard erzählt. Die meisten Kaninchen seien aber im biblischen Alter eines natürlichen Todes gestorben, weil es Johannes nicht übers Herz gebracht habe, sie zu schlachten, vor allem, weil auch die Kinder so an ihnen hingen.
    Was wohl Georg empfunden hat, als er hier Abschied nahm? Vielleicht war es ein Abschied für immer, das musste ihm doch bewusst gewesen sein, als er heimlich seinen Rucksack packte, um hinauszuziehen in den Krieg. Oder hat er solche Gefühle nicht zugelassen – ist da nur Wut in ihm gewesen, eine große, alles verzehrende Wut über diese Lüge, mit der er aufgewachsen ist? Was hat er gefühlt, als er in der Nacht hinausgeschlichen ist aus dem Elternhaus, um den Bus zu besteigen, der am Rathaus wartete? Der Bus, der die neuen Rekruten in das Wehrertüchtigungslager brachte. Er hätte noch nicht fortgemusst, hätte noch das Abitur machen können, aber er hat sich freiwillig gemeldet.
    Das ist seine letzte Rache gewesen, denkt Anna auf einmal, der Junge hat es ihnen heimgezahlt. Vielleicht hat er den Kopf noch einmal in das Zimmer von Anna gesteckt, hörte die Atemzüge der schlafenden Schwester. Vielleicht streichelte er zum letzten Mal Mimi, die große, grau getigerte Katze, die gerade von einem ihrer nächtlichen Raubzüge heimkam und ihm neugierig nachsah, als er eilig die steile Straße hinunterlief.
    Beim Lesen hat Anna gemerkt, dass Johannes diese Gedanken an Georgs letzte Nacht in seinem Elternhaus nicht losgelassen haben. Was hat der Junge gefühlt? War es wirklich nur noch Hass und Wut gewesen? Johannes sagt, dass er sich schuldig fühlt und dass ihn diese Schuld sein Leben lang begleitet hat.
    Kurz vor Georgs achtzehntem Geburtstag sei es gewesen, er sei gemustert und erwartungsgemäß für tauglich befunden worden. Trotzdem haben Johannes und Marie gehofft, wegen der Schule seine Einberufung noch hinauszögern zu können. In der Zwischenzeit hat Hitler

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