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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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viele Flugzeuge über Grunbach talabwärts donnerten. Das sei nichts Außergewöhnliches in dieser Zeit gewesen – meistens flogen sie Richtung Stuttgart, um Bomben abzuwerfen. Ihre Mutter hatte sich damals wieder furchtbar aufgeregt und gemeint, dass es gleich wieder in Stuttgart brennen werde. Von Grunbachern, die in Stuttgart beim Aufräumen geholfen hatten, wusste man von den Schrecken solcher Bombardierungen. Erst warfen die Flugzeuge Brandbomben, dann Splitterbomben, die speziell die Menschen treffen sollten, die versuchten, das Feuer zu löschen. Am schlimmsten waren die Phosphorbrandbomben, die man nicht mit Wasser löschen konnte.
    Aber an diesem Tag war das Ziel nicht Stuttgart gewesen. In den Abendstunden des 23. Februar 1945 versank Pforzheim in Schutt und Asche. Man hatte auf einmal Explosionen gehört und dann gab es diesen fahlroten Feuerschein am Horizont. Ihre Mutter hatte geweint und gezittert und dann waren sie aus dem Haus gerannt, den Hügel hinter dem Haus hinaufgeeilt und hatten in dieses Höllenrot gestarrt, sie, Lene und Louis-Friedrich, der als Erster die Situation erkannt hatte: »Pforzheim brennt!«
    Die übrigen Dienstmädchen hatte man schon längst nach Hause geschickt und Walter König, der Chauffeur und Gärtner, war seit vorigem Jahr bei der Wehrmacht und befand sich irgendwo in Frankreich. Friedrich war noch unterwegs gewesen und Lisbeth hatte am späten Nachmittag Beruhigungstabletten genommen und lag im Dämmerschlaf in ihrem Bett.
    Anna, um Himmels willen, Anna! Dieser Gedanke hatte Gretl damals jäh durchzuckt. Anna hatte als Verkäuferin im selben Kaufhaus wie zu der Zeit ihre Mutter gearbeitet. Auf die Oberschule gehen, wie es ihr Vater wünschte, wollte sie nicht, obwohl sie sehr gute Noten hatte. »Ich will Geld verdienen, damit ich so schnell wie möglich von zu Hause wegkann«, hatte sie ihm kühl mitgeteilt. Das Kaufhaus Merkur, das früher nach seinem jüdischen Besitzer Schocken hieß, war in »arischen Besitz überführt worden«, wie man so schön sagte, ansonsten hatte sich nicht viel geändert. Anna arbeitete in der Damenkonfektionsabteilung, wobei es in den letzten Kriegsmonaten nicht mehr viel zu verkaufen gab, und Johannes hatte die ganze Zeit befürchtet, dass sie in irgendeinen Rüstungsbetrieb gesteckt würde und von zu Hause wegmusste.
    Gretl hatte sich damals in Erinnerung gerufen, wie sie da oben auf dem Hügel gestanden und plötzlich gebetet hatte: »Lieber Gott, nicht Anna. Das halten sie nicht mehr aus. Lass sie leben!«
    Eigentlich war das sehr egoistisch von ihr gewesen, nur um den einen Menschen zu beten, wo doch in dieser einzigen Nacht 23.000 Menschen umgekommen waren. Aber es ist doch auch verständlich – die vielen Todesmeldungen damals hatten einen regelrecht abgestumpft.
    Sie hatte auf einmal Johannes und Marie gesehen, die ebenfalls auf den Bergrücken geeilt waren.
    »Ist Anna noch nicht zurück?«, hatte sie gerufen und Johannes war zu ihnen hergerannt. »Wenn sie den letzten Zug noch bekommen hat, dann müsste sie aus der Stadt draußen gewesen sein, bevor es losging. Aber die Züge verkehren nicht mehr regelmäßig, vielleicht ist ihrer gar nicht mehr abgefahren, vielleicht hat sie am Bahnhof gestanden und gewartet. Die Bahnhöfe bombardieren sie doch meist zuerst.«
    Er konnte gar nicht mehr weiterreden und hatte nur hilflos in den feuerroten Abendhimmel gestarrt und dann hatte er seinen Schwur geleistet. Louis-Friedrich, der neugierig hergekommen war, hatte ihn ganz erstaunt angesehen, diesen schmalen, blassen Mann in seiner Angst und Seelenqual. »Nicht Anna, nicht auch noch dieses Kind!«
    Gretl weiß nicht mehr genau, wie lange sie da oben gestanden hatten. Es war bitterkalt und ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich wollte Johannes zum Grunbacher Bahnhof gehen, um zu hören, ob noch Züge erwartet wurden. Friedrich war in der Zwischenzeit wohl heimgekommen, sie hatte das Auto gehört, aber natürlich kam er nicht herauf. Immer noch stand Georg zwischen ihm und Johannes und Marie, Georgs Schatten und die Schuld, die sie empfanden, jeder für sich. Der Feuerbrand am Himmel schien immer greller zu werden, es war wirklich so, wie Johannes gesagt hatte. Die Hölle hatte ihre Tore geöffnet und die Feuerströme brachen hervor. Gretl erinnert sich, dass sie damals gedacht hatte, diese Feuer kämen immer näher und würden bald auch sie verschlingen.
    Und da hatte Anna auf einmal vor ihnen gestanden, war aus der Dunkelheit wie aus

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