Beerensommer
Gemüse, auf einmal stand Lisbeth neben mir. ›Was will sie, Gretl?‹, hat sie geflüstert. ›Was will sie von Friedrich? Nach so vielen Jahren. Es ist doch vorbei, Gretl, nicht wahr?‹ Und dabei hat sie mich so fest am Arm gepackt, dass ich fast geschrien hätte. So viel Kraft noch, habe ich gedacht. Dabei ist sie zaundürr, wird immer weniger. Jetzt ist sie auch noch verrückt geworden. ›Von wem reden Sie denn?‹, habe ich gefragt. Und nach einigem Hin und Her ist mir klar geworden, dass Marie bei Friedrich war. Erst spät am Abend ist er aus seinem Arbeitszimmer gekommen, er sah richtig krank aus. ›Es ist wegen des Jungen, Georg‹, hat er nur gesagt. ›Ich habe herausbekommen, bei welcher Einheit er ist, kenne jetzt auch den Namen des kommandierenden Majors. Ich tue alles, Gretl, alles Menschenmögliche‹, und er hat so elend ausgesehen, dass ich am liebsten gleich losgeheult hätte. Vorher hatte Lisbeth ihm noch eine Szene gemacht, und dann ist Louis-Friedrich in die Küche gekommen und hat mich gefragt, ob es wahr sei, was Mutter ihm gesagt habe. ›Dieser Georg Helmbrecht ist mein Bruder? Warum hat mir das nie jemand gesagt? Ich kenne ihn ja kaum, er war in der Schule immer zwei Klassen über mir – aber eines muss ich sagen, jetzt wo ich es weiß: Er sieht Vater sehr ähnlich! Ich hätte es mir eigentlich denken können.‹ Er hat sich dann zu mir an den Tisch gesetzt und gelacht. ›Mein Alter und seine Weibergeschichten! Aber dass er auch noch einen Kuckuck in die Welt gesetzt hat ... Dafür ist er zu schlau, hab ich immer gedacht. Und was wollte diese Marie Helmbrecht heute von ihm? Mama führt sich ja wieder auf ...‹ Er soll nicht so über seinen Vater reden, habe ich gesagt. Er war damals mitten in der Pubertät und hat die ganze Zeit so abfällig geredet. Das hat mir gar nicht gefallen, aber er hat zu dieser Zeit nicht mehr auf mich gehört. Ich weiß noch, wie ich dasaß und so verzweifelt war. Und wenn der Krieg noch lange geht, muss Louis-Friedrich auch fort, ging es mir damals durch den Kopf.«
Dann war Weihnachten 1942 gekommen, das erste Weihnachten ohne Georg. Johannes schreibt davon, dass er sich sehr davor gefürchtet hatte. Marie und Anna hatten unermüdlich Strümpfe und Handschuhe gestrickt, die sie irgendwohin ins Ungewisse nach Russland, an die Front, schickten. Friedrich hatte wohl nichts ausrichten können. Briefe von Georg waren nur spärlich gekommen, enthielten viele nichtssagende Formulierungen. Immerhin schien er noch nicht in ernsthafte Kampfhandlungen verwickelt worden zu sein. An Weihnachten hatte Marie dann die zweite Idee gehabt. Sie stand auf einmal in der Küche, mit der Schmuckkassette unter dem Arm, die sie jetzt gleich an diesen Major schicken wollte, Georgs Vorgesetzen. Sie könne doch keinen Schmuckkasten nach Russland schicken, hatte Johannes gemeint. Aber nein, nicht nach Russland, an die Heimatadresse sollte sie geschickt werden. Friedrich habe die Anschrift – sie hatte jetzt ganz unbefangen von ihm gesprochen, die Angst um Georg hatte alles andere ausgelöscht – und der Major habe doch bestimmt eine Frau oder Freundin. Das müsse ihn günstig stimmen, er verbände dann etwas mit dem Namen Georg Helmbrecht.
Johannes hatte damals nicht gewagt ihr zu widersprechen, so naiv und verrückt das Ganze gewesen war, es wurde zu einer fixen Idee bei ihr: die Schmuckkassette gegen Georgs Leben!
Gut, hatte er resigniert gedacht, wenn es sie beruhigt, hatte Packpapier besorgt, die Kassette sorgfältig in dicke Lagen Zeitungspapier eingewickelt, nach Maries Anweisung einen Brief dazu geschrieben, und an einem kalten Januartag hatte er sich gerade darangemacht, seine Stiefel anzuziehen, um zur Post zu gehen, als es auf einmal geklopft hatte. So früh schon, hatte er gedacht, die SA konnte es doch nicht sein, die Schikanen hatten nachgelassen, denn die meisten Männer waren jetzt weg und man hatte andere Sorgen. Die Tür war aufgegangen und der Ortsgruppenleiter und der stellvertretende Bürgermeister hatten dagestanden. Johannes hatte in ihre Gesichter geschaut – und wusste es! Sie hatten den Satz gesagt, diesen Satz, vor dem sie sich so gefürchtet hatten, und alles weitere Reden ging in den Schreien Maries unter. Später hatten sie erfahren, dass er an einem Ort namens Witebsk gefallen war. »Bauchschuss«, hatte der stellvertretende Bürgermeister gesagt, und dass es schnell gegangen sei. Der Ortsgruppenleiter hatte noch gemeint, die übliche Floskel, »
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