Beerensommer
dem Nichts aufgetaucht. »Wo seid ihr denn? Ich war schon im Haus, aber alles war dunkel. Da habe ich euch gesucht.« Sie hatte ganz ruhig, fast gelassen gewirkt. Dann hatten sie alle auf einmal durcheinander geredet, gerufen, geweint, gelacht in einem, sie hatten Anna in den Arm genommen, sie gedrückt, auch Johannes, und sie ließ es geschehen, blieb dabei merkwürdig kühl und unbeteiligt. Vielleicht war ihr in diesem Augenblick noch gar nicht richtig bewusst gewesen, dass sie um Haaresbreite dem Tod entronnen war. Sie hatte tatsächlich den letzten Zug erwischt, der sogar einigermaßen pünktlich gefahren war. Einige Arbeitskolleginnen hätten ihr geraten, zu bleiben und mit ihnen in den Bunker zu gehen, denn es hatte gerade Fliegeralarm gegeben. Aber sie hatte abgelehnt und war zum Bahnhof gerannt, und das war ihr Glück gewesen. Später stellte sich dann heraus, dass alle, die in diesem Bunker saßen, umgekommen waren. Die meisten ihrer Kolleginnen waren tot, verbrannt, im Feuer verglüht. Auf Kindergröße zusammengeschrumpfte schwärzliche Klumpen, die man in Reih und Glied nebeneinander legte. Und alle diese Toten bildeten eine unendlich lange Straße des Grauens. Aber das wussten sie damals noch nicht.
Anna hatte dann berichtet, dass der Zug plötzlich in Neuenbürg angehalten hatte, es ging nicht weiter, vielleicht fürchtete man Bombardierungen. Sie sei vom Bahnhof auf die Straße gehetzt, ganz verzweifelt, es wurde dunkel und sie hatte Angst davor, den ganzen Weg nach Grunbach zu gehen. Und dann war der Herr Weckerlin vorbeigekommen, in seinem großen Auto, und hatte sie mitgenommen! Er hatte ihr auch erzählt, dass Pforzheim bombardiert worden war, und sie hatten das Feuer am Horizont gesehen. »Machen wir, dass wir nach Hause kommen«, hatte der Herr Weckerlin gesagt und er sei im Übrigen sehr freundlich gewesen. Bei diesen letzten Worten hatte sie ihre Eltern herausfordernd angeblickt. Marie war kurz zusammengezuckt, aber Johannes hatte gar nicht darauf reagiert. Er war außer sich vor Freude gewesen – seine Anna lebte, war der Hölle entkommen, umso besser, wenn Friedrich sie sicher nach Hause gebracht hatte.
»Was glaubst du: Hat es damals schon angefangen?«, hat Anna sie gefragt.
»Ich weiß es nicht, keiner weiß es genau, wann es begonnen hat mit den beiden. Kann schon sein, sie war neunzehn und ein bildhübsches Mädchen und er war fünfundvierzig und immer noch ein sehr stattlicher Mann.« Plötzlich hat sich Gretl richtig erschrocken. »Also weißt du es jetzt?«
Anna hat genickt. »Ich hatte so eine Ahnung, also habe ich die letzten Seiten überflogen.« Und auf einmal ist da ein ganz kleines, scheues Lächeln auf ihrem Gesicht gewesen. »Friedrich Weckerlin ist mein Großvater! So etwas. Aber richtig überrascht bin ich nicht mehr.« Sie ist wieder ernst geworden und dann kam die Frage, auf die Gretl gewartet hat und die sie auch ein bisschen gefürchtet hat.
»Warum, Gretl? War das wirklich Liebe, Leidenschaft? Oder war es auch Rache an Marie und Johannes? Er selbst vermutet es jedenfalls. Sich ausgerechnet mit diesem Mann einzulassen! Härter konnte sie ihre Eltern doch nicht treffen.«
Aber Gretl hat keine Antwort gewusst. Nein, sie weiß keine, bis auf den heutigen Tag. Vielleicht war es von allem etwas. Haben die beiden es selber richtig gewusst? Friedrich hat einmal ganz kurz mit ihr darüber gesprochen. Seltsam ist nur, dass es all die Jahre später immer noch ein bisschen wehtut. Seine ganzen Weiber hatten ihr, Gretl, nichts ausgemacht, Lisbeth zählte sowieso nicht. Aber Anna, das hatte geschmerzt. Auf die war sie richtig eifersüchtig gewesen. Wie er auf einmal wieder gestrahlt hatte, so richtig von innen heraus gestrahlt. Glücklich war er gewesen, hatte wieder gelacht, sah auf einmal ganz jung aus. Und sie war so verbohrt und vernagelt gewesen, hatte so lange nicht gewusst, warum.
Gretl seufzt. Und es ist doch gut, dass die alten Geschichten wieder zum Vorschein kommen, das merkt sie jetzt. Vieles hat sie mehr geplagt, als sie sich eingestanden hat. Ganz vergessen kann man eben doch nicht. Und sie kann mit vielem erst jetzt richtig ihren Frieden machen. Nur die Sache mit Anna und Friedrich, da bleibt ein Schmerz zurück, seltsam, nach all den vielen Jahren.
Entschlossen stemmt sie sich an der Tischkante hoch und schlurft in den Flur, nimmt ihren Stock, schließt die Haustür ab und macht sich leise keuchend auf den Weg zu Johannes’ Haus. Sie will das Kind, wie
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