Beerensommer
abhalten lassen, auf Sie zu warten, und kramen in der Zwischenzeit in alten Erinnerungen. Ich fürchte, Anna, das wird auch Ihr Schicksal in den nächsten Tagen sein, in alten Erinnerungen zu kramen, meine ich«, das Lächeln vertieft sich, »und jetzt werden Sie sich sicher fragen, aus welcher alten Schublade wir denn gesprungen sind. Mein Name ist Richard Caspar und das ist meine Frau Christine«, sagt er und deutet dabei mit einer winzigen Kopfbewegung zu der braunhaarigen Frau, die neben ihn getreten ist. »Wir sind sogar über einige Ecken herum verwandt und deshalb schlage ich vor, dass wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten und Sie einfach Richard und Christine zu uns sagen.«
Anna nickt zustimmend. »Einverstanden. Also, ich bin Anna und Sie können ruhig du zu mir sagen.«
Zu ihrer Überraschung drückt sie der große, dunkle Mann, der ab jetzt Richard für sie ist, plötzlich fest an sich und führt sie hinüber zu Gretl, die selig lächelt und sie neben sich auf das Sofa zieht.
Das sind also Verwandte von mir, denkt sie überrascht. Völlig unvermutet hat sie auf einmal Verwandte bekommen! Viele Fragen liegen ihr auf der Zunge. Wie, um Himmels willen, sind sie mit ihr verwandt? Ihre unausgesprochenen Fragen werden von Christine zum Teil beantwortet: »Ich bin die Großnichte von Friedrich Weckerlin.« Als sie den fragenden Blick in Annas Augen sieht, meint sie lachend: »Ach, du Arme. Die Gretl meint, du wüsstest praktisch nichts über deine Familie. Und dann kommen wir und fallen gleich mit der Tür ins Haus! Aber keine Sorge, die Gretl wird dir alles ganz genau erklären. Und dann sind da ja auch noch die Aufzeichnungen deines Urgroßvaters. Auf die sind wir selber gespannt. Ich meine ...«, unterbricht sie sich hastig und errötet leicht, nachdem ihr Mann sie in die Seite gestupst hat, »wenn du uns davon erzählen willst. Kein Mensch hat sie bisher zu Gesicht bekommen. Unsere Gretl hütet sie nämlich wie der Drache seinen Schatz.«
»Du redest schon wieder viel zu viel«, sagt Richard, aber es klingt sehr liebevoll. »Jedenfalls haben wir zur Einstimmung gleich unsere alten Alben mitgebracht. Hast du schon Bilder von deiner Familie gesehen?«
Stockend und etwas verlegen berichtet Anna von den Fotoalben in Berlin. »Ich kann aber die Personen nicht so richtig zuordnen.« Wie peinlich, vor diesen Leuten eingestehen zu müssen, dass Marie ihre Vergangenheit und ihre Familie konsequent aus ihrem Leben und dem ihrer Tochter verbannt hat. Was müssen sich diese Leute denken, die so unbefangen und selbstverständlich mit ihrer Familiengeschichte umgehen? Ein vertrautes Gefühl regt sich in Anna, da ist wieder der Zorn auf Mama, die Wut darüber, dass sie allein gelassen worden ist, nicht nur als Tochter, sondern auch allein gelassen mit den Bruchstücken ihrer Familiengeschichte. Und dann ist da auch diese immer stärker werdende, nagende Sehnsucht ...
Ein dünner, loser Faden, denkt Anna, und ich bin doch hineingewoben, in etwas, das ich nicht kenne.
Christine hat sich in der Zwischenzeit neben sie gesetzt. Anna spürt die Wärme ihres Körpers und atmet den Duft, der von ihrer Haut ausgeht. Sie könnte meine Mutter sein, denkt sie und spürt wieder den Kloß im Hals. Richard zieht ein abgegriffenes Fotoalbum aus einem bunt durcheinander geworfenen Stapel hervor, blättert darin und legt die aufgeschlagene Seite dann feierlich auf Annas Schoß.
»Fangen wir vorläufig einmal mit diesem Bild an. Das ist dein Urgroßvater, Johannes Helmbrecht, und ...«, er deutet auf eine der dort abgebildeten Personen und blickt aus den Augenwinkeln auf Gretl, die sanft, aber bestimmt den Kopf schüttelt, »und das ist sein bester Freund Friedrich Weckerlin. Das Bild ist durch reinen Zufall entstanden, die Familien hätten sich in dieser Zeit nie ein Foto leisten können. Der Königliche Hoffotograf Christoph Blumenschein aus Wildbad hat die beiden einmal gesehen, wie sie ihren Beerenkorb ins Badhotel geschleppt haben. Irgendwie hat er wohl gedacht, dass das einmal etwas anderes war, als immer nur die vornehmen Damen mit ihren Hüten und die gesetzten Herren mit den steifen Kragen zu fotografieren. Er hat also ein Foto von den Buben gemacht, und weil er ein freundlicher Herr war, hat er dem Koch vom Badhotel zwei Abzüge gegeben, für die Jungen. Die alte Frau Weckerlin hat das Bild immer sehr in Ehren gehalten. Hast du ein solches Bild auch in euren Alben gefunden?«
Anna schüttelt den Kopf. Aus dieser
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