Beerensommer
Schatten der Fichten ab. Anna ist für einen Moment verwirrt. Wo ist sie denn? Dann aber richtet sie sich energisch auf und geht hinüber zum Fenster. Wie das riecht, ganz anders als in Berlin!, denkt sie. Würzige Waldluft vermengt sich mit dem süßlichen Duft der Obstbäume. Sie atmet tief ein, als müsse sie ihre Lungen ganz mit dieser Luft füllen. Von unten dringen leise Geräusche an ihr Ohr, Türen gehen, Schubladen werden auf- und zugezogen und dazwischen hört man leise murmelnde Stimmen.
Anna knipst die kleine Nachttischlampe mit den Quasten am Schirm an und sieht auf ihre Uhr. Es ist halb zehn. So spät schon! Sie hat ungefähr sechs Stunden tief und fest geschlafen. Gretl ist offensichtlich noch wach und hat wohl Besuch.
Anna überlegt kurz. Vor ihr auf dem Nachttisch liegt die Kassette mit den Büchern. Sie könnte jetzt anfangen, darin zu lesen. Keiner würde sie stören, Gretl denkt sicher, sie schläft. Sie könnte endlich die Geschichte ihres Urgroßvaters lesen, die Geschichte ihrer Familie, könnte den Fotos in den Alben Namen geben und die Erinnerungen beschwören, die für sie bis jetzt für immer verschlossen schienen. Da in dem merkwürdigen Kasten liegen sie, greifbar und nah, denkt sie.
Aber es ist seltsam! Sie traut sich plötzlich gar nicht diesen Kasten aufzumachen, die Wachstuchhefte in die Hand zu nehmen und aufzuschlagen. Sie hat Angst vor diesen Buchstaben, dieser Schrift, die sich wie ein endloses Band gleichmäßig über die Seiten windet. Mit schwarzer Tinte hat er geschrieben, dieser Johannes Helmbrecht, an einigen Stellen aber auch mit Bleistift, manchmal verliert die Schrift ihre Gleichförmigkeit, die Buchstaben werden steiler und drohen an manchen Stellen fast zu kippen.
Ist er aufgeregt gewesen oder traurig? Beim ersten flüchtigen Durchblättern hat sie auch gemerkt, dass er an manchen Stellen den Satz einfach abgebrochen und eine neue Zeile begonnen hat. Zuweilen drängen sich die Wörter ganz eng zusammen, als wolle er Papier sparen, und an einigen Stellen ist die Schrift auch verwischt, lösen sich die Wörter in verschmierten Flecken auf.
Merkwürdig! Irgendwie hab ich Angst, auch nur ein Wort von dem zu lesen, was da geschrieben steht, denkt Anna beklommen und schlüpft entschlossen in ihre Schuhe. Heute nicht mehr, entscheidet sie. Morgen – für heute ist mein Bedarf an Gespenstern der Vergangenheit gedeckt! Obwohl man Gretl nun wirklich nicht als Gespenst bezeichnen kann, denn trotz ihrer Gebrechen wirkt sie noch quicklebendig mit ihren wachen, flinken Augen. Außerdem hat Anna Hunger und ist auch ein bisschen neugierig auf den späten Besuch, der sich bei Gretl eingefunden hat.
Als sie leise die Tür zum Wohnzimmer aufdrückt, sieht sie, dass drei Personen ihre Köpfe unter dem gelblichen Schein der Stehlampe zusammenstecken. Gretl thront von Kissen gestützt auf dem Sofa und hält ein dickes Buch auf dem Schoß, daneben sitzt eine Frau mit kurz geschnittenen dunkelbraunen Haaren, die Anna auf den ersten Blick recht jung vorkommt. Sie tritt vorsichtig näher und überlegt, wie sie auf sich aufmerksam machen kann, aber wahrscheinlich hat die offen gelassene Tür einen Lufthauch ins Zimmer geweht, denn die Leute im Zimmer blicken auf einmal alle hoch. Die Frau springt auf und ist mit ein paar Schritten bei Anna.
»Das ist also die Anna aus Berlin. Herzlich willkommen!«, ruft sie aus und streckt Anna ihre rechte Hand hin.
So jung ist sie doch nicht mehr, denkt Anna, denn man kann jetzt die Fältchen um Augen und Mundwinkel deutlich sehen. Aber die Stimme klingt warm und herzlich und sie scheint sich wirklich zu freuen. Auch die dritte Person hat sich jetzt erhoben. Der Mann hat im Sessel neben den Frauen gesessen und im Näherkommen registriert Anna verblüfft, dass es sich um einen auffallend gut aussehenden und exotisch wirkenden Mann handelt. Er ist groß und schlank, aber das Außergewöhnlichste an ihm sind die dunkle Haut, wie Milchkaffee, denkt Anna, und die schwarzen krausen Haare, die an den Schläfen und über der Stirn grau schimmern. Er hat wohl Annas erstaunten Blick bemerkt, denn er lächelt leicht, ergreift dann Annas Hand und drückt sie fest.
»Auch von mir ein herzliches Willkommen. Seit Sie geschrieben haben, dass Sie kommen werden, ist unsere Gretl ganz närrisch vor Freude. Und auch uns hat die hoffentlich entschuldbare Neugierde gleich herübergetrieben. Gretl meinte zwar, Sie würden sicher bis morgen schlafen, aber wir haben uns nicht
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