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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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frühen Zeit existiert gar kein Bild, das weiß sie genau. Merkwürdig, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Spuren ausgelöscht wurden! Sie nimmt das Bild aus den Fotoecken heraus, um es genauer betrachten zu können.
    Da stehen tatsächlich zwei Jungen, der eine kräftig und hoch aufgeschossen, der andere schmächtig und klein.
    Das muss Johannes, ihr Urgroßvater sein. Lange, helle Haare fallen ihm in die Stirn und er blickt aufmerksam in die Kamera. Einen ganz wachen Blick hat er aus diesen merkwürdig hellen Augen, das kann man sogar auf dieser alten Schwarz-Weiß-Fotografie erkennen. Und irgendwie stecken Neugierde und eine verhaltene Skepsis dahinter.
    Der andere ist ein auffallend hübscher Junge mit dunkel gelockten Haaren. Dieser Richard sieht ihm ähnlicher als seine Großnichte. Auch er blickt direkt in die Kamera, aber anders als Johannes wirkt dieser Junge trotzig und verschlossen. Die Augen sind so traurig, denkt Anna, als leide er an einem tiefen Kummer, der nicht nach außen dringt und sich nur in den Augen spiegelt. Und noch etwas anderes liegt in seiner Haltung, so wie er dasteht, in diesem winzigen Augenblick, den ein Fotograf festgehalten hat. Neben dem Misstrauen und der Ablehnung errät man noch ein anderes Gefühl. Es ist die Art, wie er den Kopf hält. Das muss ein sehr stolzer Junge gewesen sein, denkt Anna. Der andere blickt offener in die Welt. Es kommt ihr so vor, als sei der andere, ihr Urgroßvater, neugierig gewesen, sein Blick scheint alles aufzunehmen, und er hat wohl auch diesen Moment für sich im Gedächtnis festgehalten.
    »Das muss ungefähr um 1912 aufgenommen worden sein«, sagt Richard mitten in das lange Schweigen hinein, dessen Anna sich erst jetzt bewusst wird. Sie registriert, dass die anderen sie gespannt anschauen. »Leider gibt es keine Beschriftung mit Daten und so weiter. Aber im Hintergrund ist deutlich die Fassade des alten Badhotels zu sehen«, erklärt Richard weiter.
    Man kann tatsächlich geschwungene Arkaden erkennen, vor denen zierliche Stühle stehen, auf denen Kurgäste sitzen, die von weiß gekleideten Kellnern mit großen Schürzen bedient werden. Die Aufnahme hat einen Moment eingefangen, in dem sich ein Kellner devot zu einer Dame beugt, die einen riesigen Hut mit Federn trägt, und ein zweiter Kellner zwängt sich gerade durch die Reihen mit einem Tablett, das über den Köpfen zu schweben scheint. Die Menschen im Hintergrund des Bildes unterhalten sich angeregt, einige schauen aber herüber zu der kleinen Szene, wahrscheinlich haben sie den Fotografen bemerkt. Und vor dieser Kulisse, die Eleganz und Wohlstand ausstrahlt, stehen die zwei Jungen, barfuß, mit kurzen Hosen und viel zu großen Hemden, die fleckig und zerrissen nachlässig in die Hosen gestopft sind. Sie tragen einen Korb in der Mitte, jeder hält einen Henkel fest umklammert. Was für ein Kontrast zum Reichtum und Müßiggang im Hintergrund des Bildes! Aber wahrscheinlich ist es genau dieser Kontrast gewesen, der den Königlichen Hoffotografen Blumenschein gereizt hat.
    »Das sind wahrscheinlich Heidelbeeren«, sagt Richard auf eine entsprechende Frage Annas hin und deutet auf den Korb. »Viele Kinder haben damals Beeren gepflückt und sie an die Hotels und Bäckereien in Wildbad verkauft. Die haben daraus Süßspeisen oder Kuchen für die Kurgäste gemacht. Für die ganz Armen war das eine fast lebensnotwendige Einkommensquelle.«
    Die alte Gretl nickt versonnen. »Im Frühjahr haben wir auch Birken- und Brennnesselblätter gesammelt. Die Apotheker sind ganz wild darauf gewesen. Und im Herbst dann die Eicheln und Bucheckern. Öl hat man daraus gemacht. Das wurde auch ganz gut bezahlt. Aber am besten waren die Beeren im Sommer. Das waren Delikatessen für die Sommerfrischler. Der Johannes hat immer die besten Beerenplätze gewusst. Er war auch der Schnellste im Beerenzupfen. Der Friedrich hat sich immer ungeschickt angestellt, er war’s ja nicht so gewohnt. Die anderen haben ihn oft ausgelacht. Dann hat ihm der Johannes immer etwas von seinen abgegeben, heimlich hat er sie in seinen Korb geschüttet, dass nicht einmal der Friedrich selbst es gemerkt hat. Der war nämlich stolz und hätte das nicht gewollt. Er war ein guter Mensch, dein Urgroßvater ...«
    Plötzlich bricht die Stimme der alten Gretl ab und sie starrt vor sich hin. Die anderen schweigen verlegen und Anna muss einige Male schlucken. Sie schaut auf das Foto und meint auf einmal den Blick der beiden zu spüren, so

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