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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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frühen Morgenstunde in der Küche. Friedrich setzte sich auf die Wasserbank, auf der man früher die Eimer abgestellt hatte, als man das Wasser noch vom Rathausbrunnen holen musste. Jetzt hatte sogar die Stadtmühle fließendes Wasser, seit man vor ein paar Jahren die Gemeinde an die Wasserleitung angeschlossen hatte. Er nahm seine Stiefel, die er unter dem Arm getragen hatte, und versuchte mühsam hineinzuschlüpfen. In den letzten Wochen war das Gehen immer beschwerlicher geworden. Die Zehen hatten keinen Platz mehr und scheuerten sich wund und an den Fersen hatten sich dicke Blasen gebildet. Er hatte abends nasse Steine in die Schuhe gesteckt, um sie zu weiten, aber auch das half nicht, sie waren einfach zu klein. An diesem Morgen gab er nach einigen vergeblichen Versuchen, in die Schuhe zu schlüpfen, endgültig auf, es hatte keinen Sinn, sie passten nicht mehr. Damit war besiegelt, dass er heute nicht in die Kirche gehen konnte, es war ja Gottes Wille, dachte Friedrich höhnisch und schämte sich gleichzeitig dafür.
    Aber das Schlimmste war, dass er ab jetzt barfuß gehen musste, zumindest so lange, bis er irgendwo ein Paar Schuhe aufgetrieben hatte, und wie er das bewerkstelligen sollte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Barfuß – jetzt ging es wohl, das Frühjahr war bislang recht warm gewesen und der Sommer stand bevor. Aber etwas anderes war noch viel schlimmer: Barfuß zu laufen – das war das Zeichen der Armut, der schlimmen, endgültigen Armut! Das hieß, dass er jetzt dazugehörte, dass er abgerutscht war zu den Ärmsten der Armen und dass die Schranken sich hinter ihm schlossen. Selbst Johannes, der das doch gewiss kannte, nichts anderes gewohnt war, setzte immer seinen ganzen Ehrgeiz daran, ein Paar Schuhe zu haben, um auch im Winter in die Schule gehen zu können. Und wenn sie noch so abenteuerlich aussahen, vielfach geflickt, mit Löchern und offenen Nähten – er hatte Schuhe! Die, die er im letzten Winter getragen hatte, hatte ihm seine Ahne besorgt, vom Dederer, dem reichen Louis Dederer, dem Sägewerksbesitzer, wo sie einmal im Monat bei der Wäsche half. Johannes hatte ihm alles genau erzählt. »Nimm’s halt mit«, hatte der Dederer lachend gesagt, als die Ahne demütig bittend auf ein altes Paar Stiefel gezeigt hatte, die irgendwo in einer Ecke herumstanden. Die Sohlen seien löchrig und zum Neubesohlen seien sie dem Dederer zu alt gewesen, hatte ihm Johannes anvertraut. Auch wenn er grotesk aussah in diesen viel zu großen Siebenmeilenstiefeln, er hatte Schuhe! Und er, Friedrich Weckerlin, saß jetzt da und beneidete den Johannes Helmbrecht um diese Schuhe.
    Friedrich legte den Kopf auf den Spülstein, am liebsten hätte er losgeheult, laut gebrüllt, wie damals, als er noch ein kleiner Junge war und sich wehgetan hatte. Aber es nützte doch nichts, kein Vater kam mehr, um ihn zu trösten, und die Mutter konnte ihm auch nicht helfen. Die letzten Nächte hatte er oft wachgelegen und fieberhaft überlegt, aber es war ihm nichts eingefallen. Er konnte doch nicht von Tür zu Tür gehen und um Schuhe betteln. Gut, es gab die Verwandten von der Mutterseite her, aber die hatten von Anfang an strikt jede Hilfe verweigert. Friedrich ballte insgeheim die Fäuste, wenn er daran dachte, wie die Mutter gleich am ersten Morgen, nachdem sie in die Stadtmühle gesteckt worden waren, mit wehenden Röcken hinuntergerannt war ins Unterdorf, wo sich hinter dem stattlichen Gasthaus »Zum Bären« einige kleinere Häuschen mit eingezäunten Gärten drängten.
    Das war die so genannte Bärensiedlung, wo einige Familien lebten, die sich neben der Kuh ein paar Hühner und manchmal auch eine Sau halten konnten. Meist standen in den Gärten auch Kaninchenställe, sodass sich die Menschen einigermaßen gut versorgen konnten. Friedrichs Mutter, Christine Katharina Weckerlin, kam aus einem solchen Haus und hatte weit über ihrem Stand geheiratet, als sie Friedrich Gottlieb Weckerlin ihr Jawort gab. Wie stolz waren damals die Eltern gewesen und der Bruder mit seiner Frau, wenn sie sonntags hoch erhobenen Hauptes in das Haus des reichen Schwiegersohns in der Herrengasse kamen. Aber jetzt wollten sie nichts mehr wissen vom Bankrotteur und Selbstmörder, die Christine musste selber sehen, wie sie weiterkam.
    »Wir haben doch auch nichts«, hatte die Großmutter die weinende Tochter angeherrscht, als sie in der Küche vor ihr stand und mit stockender Stimme von ihrem Unglück berichtete. »Und zu uns

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