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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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hat er ja nicht gekonnt, wie der da.« Dabei deutet sie auf das kleine Buch. »Daraus hat er uns immer vorgelesen. Fast auswendig hat er es gekonnt. In seiner Jackentasche hat’s gesteckt, als wir ihn gefunden haben, oben am Katzenbuckel. Ich hab es zu dem anderen gelegt, weil ich mir gedacht hab, dass er unbedingt wollte, dass ihr es bekommt. Er hat sie so geliebt, diese Geschichte.«
    Wieder bricht ihre Stimme und sie zieht ein großes kariertes Taschentuch aus ihrem Ärmel, in das sie kräftig schnäuzt. Anna schaut verlegen zu Boden. Vorsichtig nimmt sie das Büchlein und schlägt es auf. »Aus dem Leben eines Taugenichts« steht auf dem ersten Blatt und darunter der Name »Joseph von Eichendorff«. Anna ist im ersten Moment völlig verblüfft. Natürlich, das war die Erinnerung, die sie vorher nicht so recht greifen konnte. Der junge Mann auf dem Deckel der Kassette ist der Taugenichts! Wie war das noch mal?, versucht sie sich an die Erzählung zu erinnern. Für einen Moment sieht sie sich in ihrem Klassenzimmer im Französischen Gymnasium in Berlin.
    Deutschstunde bei der Marquardt. Endlos lange Tiraden über das Wesen der deutschen Romantik. Endlose Folgen von Gedichten, mit Mondschein und untreuen Mägdelein und gebrochenen Herzen. Furchtbar eigentlich. »Es schienen so golden die Sterne, am Fenster einsam ich stand ...« Aber irgendwie hat ihr das auch gefallen. Das war irgendwie echt, dass der Typ am Fenster einfach wegwollte – sie selbst hat manchmal auch so gedacht.
    Durch die Lektüre musste sie sich trotzdem ziemlich durchquälen, denn die Geschichte mit verkleideten Grafen, Postkutschen und singenden Müllersöhnen ist ihr einfach zu kitschig gewesen.
    Was, um alles in der Welt, hatte ihr Urgroßvater, der ihres Wissens nur ein einfacher Arbeiter gewesen ist, mit der Novelle von Joseph von Eichendorff zu tun?
    Wie ist es möglich, dass er diese kunstvoll gearbeitete Kassette angefertigt hat, einfach so?, denkt sie und fragt Gretl gleich darauf. Die Antwort, die sie bekommt, verwirrt Anna aber noch mehr! Der Oberlehrer Caspar sei schuld, sagt Gretl. Das Buch habe er von ihm bekommen, damit er einige Bilder dazu anfertigen soll. Und so habe der Johannes diese Geschichte gelesen und sei nicht mehr davon losgekommen!
    »›So möchte ich es auch einmal machen, Gretl‹, hat er zu mir gesagt. ›Einfach losmarschieren, wie der Junge im Buch, weg von all dem Elend und dem Schmutz, und statt Geige zu spielen, will ich malen! Zu den Malern nach Rom möchte ich gehen und dort leben. Richtig leben und gut leben und glücklich sein ...‹ Das werd ich nie vergessen«, meint Gretl. »Die Bilder, die er für den Caspar gemalt hat, sind übrigens die einzigen, die noch übrig geblieben sind. Alle anderen hat er verbrannt. Gleich nach der Nachricht von Georgs Tod hat er sie verbrannt!«
    Benommen hört Anna ihr zu. Was sind das nur für Geschichten! Von Menschen, die sie gar nicht kennt. Geschichten, die sie gar nicht einordnen kann. Und mit einem Mal merkt sie, dass sie müde wird. Ganz entsetzlich müde. Die erste Anspannung ist vorbei und so viel Neues, so viele Fragen türmen sich vor ihr auf. Seit Mamas Tod hat sie kaum mehr richtig geschlafen! Erschöpft fragt sie Gretl nach einem günstigen Hotel, preiswert und sauber. Nach kurzem Zögern sagt diese: »Wenn du nicht allzu anspruchsvoll bist – ich hab oben zwei Kammern, die stehen leer. Das heißt, eine ist möbliert. In ihr hat der Junge schon öfter übernachtet, wenn es mir schlecht ging. Wenn du willst, kannst du gerne hier bei mir wohnen!«
    Anna ist überrumpelt. Damit hat sie nicht gerechnet! Soll sie hier bei dieser alten Frau übernachten? Ich kenne sie doch gar nicht, denkt sie. Aber dann sagt sie spontan zu. Hier ist sie Johannes nahe, ihrem Urgroßvater, ihrer Familie. Und außerdem ist es viel besser, hier aufzuwachen als in einem unpersönlichen Hotel. Im Hinaufgehen fällt ihr ein, dass sie noch nach dem »Jungen« fragen wollte. Wer um Himmels willen war das schon wieder? Aber sie ist zu müde, später wird sie fragen; heute Abend noch oder morgen ...
    Die Fenster des kleinen Zimmers sind weit geöffnet und der dunkle Wald scheint zum Greifen nah zu sein. Würzige Luft erfüllt die kleine Kammer. Anna schläft ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt hat.
     
    Als sie wieder aufwacht, ist es dunkel im Zimmer. Hinter dem weit geöffneten Fenster spannt sich der samtblaue Nachthimmel wie ein Vorhang, davor zeichnen sich die schwarzen

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