Beerensommer
lebendig werden sie für sie. »Ein guter Mensch«, flüstert sie und wird richtig traurig. Und wir haben uns nie um ihn gekümmert! Mama hat sich sogar oft lustig über ihn gemacht. Richard versucht die melancholische Stimmung, die sich auf alle gelegt hat, zu durchbrechen. »Das Bild müsste aus dem ersten Jahr in der Stadtmühle stammen. Die Weckerlins sind im Herbst 1911 eingewiesen worden. Irgendwie sieht man es dem Friedrich an. Der Kummer steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.«
Das kann Gretl bestätigen. »Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie sie am Morgen in die Küche gekommen ist und da zum ersten Mal die Frau Weckerlin gesehen hat. Die kleine Emma hat immerzu nach Milch geschrien und der Wilhelm war ganz verschreckt. Und der Friedrich, hat sie gesagt, der Friedrich saß da wie einer, dem man den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Einer, der alles verloren hat, und damit hat sie nicht nur das Haus gemeint und all die schönen Sachen, die den Weckerlins gehört haben.«
5
Friedrich zog vorsichtig die Tür zur Küche auf. Noch war alles ruhig in der Stadtmühle. Nur das wimmernde Geschrei der kleinen Margarethe drang dumpf durch die Wände. Im November war sie auf die Welt gekommen. Tagelang hatten Lenes spitze Schmerzensschreie die Stadtmühlenbewohner verfolgt. Sie hatte in endlosen Wehen gelegen und die Hebamme, die meinte, dass es um eine wie die sowieso nicht schade sei, hatte sich doch schließlich erbarmt und den Doktor geholt. Frau Weckerlin, die immer wieder nach Lene geschaut hatte, hatte sie stark bedrängt. Der Doktor war dann tatsächlich gekommen, mürrisch und leise schimpfend, hatte nach mehr Wasser und Tüchern gebrüllt und bedenklich den Kopf geschüttelt.
Aber nach einigen zäh dahinfließenden Stunden mischte sich in einen der lang gezogenen Schmerzensschreie Lenes plötzlich ein dünnes Wimmern und alle in der Stadtmühle horchten auf. Entgegen allen düsteren Prognosen war ein gesundes kleines Mädchen zur Welt gekommen. Und auch die Mutter hatte überlebt, wenn auch knapp: Tagelang musste man um Lene bangen, denn sie hatte plötzlich hohes Fieber bekommen. Aber das war dann auch glücklich überstanden und so konnte die Hebamme eines Morgens barsch fragen, wie denn die Kleine nun heißen solle, sie müsse es drüben im Amt und beim Herrn Pfarrer melden. Lene deutete es als gutes Zeichen, dass sie und ihr Töchterchen leben sollten, und flüsterte dankbar: »Es soll so heißen wie Sie«, und so wurde die Kleine dann auf den Namen Margarethe Magdalena getauft. Der Doktor, der noch einmal zum »Nachschauen« gekommen war, bemerkte dazu bissig, selten habe er eine passendere Namensgebung erlebt. »Gleich zwei Sünderinnen auf einmal, da pass nur auf, Lene!«
Friedrich hatte nicht so recht verstanden, was er damit meinte, aber Lene schien es nicht weiter krumm zu nehmen. Bald nach der Geburt gingen die Herrenbesuche wieder los, denn sie musste jetzt »doppelt Geld verdienen«, wie sie sagte. Während der Besuche passte eine aus der Stadtmühle auf die kleine Gretl auf. Vor allem Mühlbecks Guste war ganz vernarrt in das rosige Bündel, das ihr als Puppenersatz diente, und Friedrich fürchtete, dass die Kleine irgendeine Krankheit im schmutzigen Mühlbeck-Zimmer auffangen könnte. Aber die Mutter hatte ihm tröstend übers Haar gestrichen. »Manchmal weiß ich wahrhaftig nicht, was man der Kleinen wünschen soll. Wenn es Gottes Wille ist, dass sie überlebt, dann wird es geschehen.«
Gottes Wille, dachte der Junge zornig an diesem Morgen – dem Ostersonntagmorgen des Jahres 1912. Gottes Wille war es, dass der Vater ins Wasser gegangen ist, und Gottes Wille war es, dass wir alles verloren haben und jetzt hier in diesem Loch sitzen. Also ist es auch Gottes Wille, wenn die kleine Gretl stirbt und die Lene sich verkaufen muss an diese Männer, die abends verstohlen die hintere Stiege hinabschleichen, ehrbare Bürger, die sonntags ganz vorne in der Kirche sitzen. Einer davon war der Vater der Kleinen und die Lene wusste nicht einmal, welcher. Gottes Wille kann mir gestohlen bleiben und auch die, die jetzt gerade in die Kirche gehen, können mir gestohlen bleiben. Sie haben uns ins Elend getrieben! Und dabei beten sie in der Kirche, dass man den Nächsten lieben soll. Nein, er wollte nicht mehr in die Kirche gehen, nie mehr, obwohl ihn die Mutter immer dazu anhielt, weil er doch in zwei Jahren konfirmiert wurde.
Aber da war noch etwas anderes und deshalb war er in dieser
Weitere Kostenlose Bücher