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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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ziehen könnt ihr auch nicht, wie soll das gehen? Die Bertha kriegt das Vierte und wir haben hinten und vorne keinen Platz«, und dazu hatte die Tante energisch genickt. Sie stand am Fenster mit entschlossen vor der Brust verschränkten Armen über dem schwangeren Leib. Und als Onkel Oskar, Mamas Bruder, ihr etwas ins Ohr flüsterte, hatte sie ihn böse angesehen und die Worte ihrer Schwiegermutter bekräftigt: »Die zwei Großen teilen sich schon ein Bett und das Hermännle liegt bei uns. Wir wissen selber nicht, wie das werden soll, wenn das Kleine kommt.«
    Friedrich konnte sich diese Szene gut vorstellen. Er sah sie förmlich vor sich, als die Mutter ihm davon berichtete, nachdem sie wieder zurückgerannt war in die Stadtmühle, wo Lene, die verachtete Lene, in der Zwischenzeit auf die kleine Emma und Wilhelm aufgepasst hatte.
    »Und der Großvater?«, wollte Friedrich wissen.
    Die Mutter zerknüllte fahrig ihre Schürze. »Hat wie immer nichts zu sagen. Beim Hinausgehen hat er mir das hier heimlich in die Hand gedrückt.« Sie kramte in ihrer Schürzentasche und holte zwei kleine Würste und ein fettiges Papier mit einem Stück Butter hervor. »Wir hätten nichts zu erwarten und bei vier Kindern bräuchten der Oskar und die Bertha alles selber, hat die Großmutter gesagt.« Die Mutter lachte bitter. »Wenn ich noch daran denke, wie oft sie bei uns zum Essen waren oder zum Kaffee, und wie viel ich ihnen zugesteckt habe! Dein Vater war immer so großzügig. Weißt du noch, Friedrich, was er immer gesagt hat? ›Geben ist seliger als nehmen.‹ Schlecht vergelten sie es ihm.«
    Friedrich hatte die Arme um die Mutter gelegt und seinen Kopf sanft gegen den ihren gedrückt. O ja, daran konnte er sich noch gut erinnern. Und auch daran, wie stolz die Großmutter auf den reichen und angesehenen Schwiegersohn gewesen war, die Großmutter mit dem verkniffenen Mund und dem akkurat in der Mitte gescheitelten Haar, das hinten zu einem dünnen Knoten aufgesteckt war.
    Ich habe sie nie leiden können, dachte Friedrich, sie riecht nach Kampfer und Geiz und oft habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt. Immerhin musste man ihr in einem Punkt recht geben: In dem kleinen Häuschen wäre in der Tat kein Platz für sie gewesen. Und zum Teilen war kaum etwas da. Aber das konnte man doch auch anders sagen. Und man hätte kommen können und die Mutter trösten können und ihn und den kleinen Wilhelm, der immer noch nicht begreifen konnte, was passiert war und immerzu nach dem Hannes, seinem Holzpferdchen, fragte.
    Die andere Großmutter war ihm viel lieber gewesen, die Vaterahne, auf deren Schoß er gesessen hatte, wie er sich noch dunkel erinnern konnte. Die hatte auch anders gerochen, nach den weißen Blumen, die im Garten neben den steinernen Einfassungen geblüht hatten. Aber die Ahne war schon einige Jahre tot, von der Vaterseite gab es keine Verwandten mehr und so waren sie jetzt ganz allein und hatten buchstäblich nichts mehr, nicht einmal den guten Namen und die Ehre.
    Die Mutter war gleich anschließend zum Amt gerannt. Sie lebten jetzt von den paar Groschen, die die Gemeinde zur Unterstützung zahlte, und das reichte kaum zum Überleben. Bei der Zwangsversteigerung war dann auch alles unter den Hammer gekommen und es hatte nicht einmal ganz gereicht, alle Schulden zu bezahlen, das hatte der Herr Notar Schumann abends bedrückt der Mutter erzählt. Er hatte ihr einige Gegenstände mitgebracht, um die sie gebeten hatte und die ihr persönliches Eigentum waren – das Gesangbuch, das sie zur Konfirmation bekommen hatte, und etwas Leibwäsche, die zusammen mit dem, was sie an jenem Abend im September in aller Eile zusammengerafft hatte, nun ihr einziges Eigentum bildete: einige Teller, etwas Besteck, ein paar Bettbezüge und wenige Kleidungsstücke für die Kinder. Der Notar Schumann hatte auch Friedrichs Schulranzen mitgebracht, der zusammen mit dem guten Matrosenanzug, den die Mutter noch gerettet hatte, das einzige Andenken an die bessere Zeit bildete. Aber bald würde auch der Anzug nicht mehr passen, so wie die Schuhe. Und dann? Die Schranke war geschlossen und seit jenem Tag existierten zwei Wörter, an denen das Fallen der Schranke festgemacht wurde: damals und jetzt.
    »Damals« war die Zeit des versunkenen Paradieses, nur noch eine Erinnerung, die im Alltag täglich blasser wurde. Und »jetzt« war der Alltag in der Stadtmühle. Der Tag, an dem Friedrich Weckerlin zum ersten Mal barfuß gehen würde, wie die

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