Beerensommer
ich ein Wundertier, denkt Anna und muss gleichzeitig reumütig zugeben, dass sie nicht ganz fair ist, denn schließlich sind alle freundlich und sehr hilfsbereit zu ihr.
Von unten dringen plötzlich Geräusche herauf. Sie hört Gretl hantieren und Kaffeeduft weht durch die Tür. Entschlossen schlägt Anna die Bettdecke zurück und dehnt und streckt sich am Fenster. Wie wunderbar frisch die Luft hier ist! So ganz anders als in Berlin. Sie will heute unbedingt auch diesen Berg erkunden, wo sich der berühmte Katzenbuckel befindet, von dem Gretl gestern Abend so oft erzählt hat. Und dann will sie auch anfangen in den Heften zu lesen, im Vermächtnis ihres Urgroßvaters. Zögernd nimmt sie das zuoberst liegende Exemplar zur Hand und schlägt es auf. »Für Marie und Anna« steht da in großen, leicht nach links geneigten Buchstaben auf dem ersten Blatt. Sie nimmt nacheinander alle Hefte aus der Kassette und sieht, dass er mit den Aufzeichnungen wenige Tage nach ihrer Geburt angefangen hat.
Er hat es für mich geschrieben, für mich und Mama, denkt Anna unwillkürlich und sieht plötzlich einen alten Mann am Tisch sitzen, mühsam Wort um Wort mit diesen Buchstaben schreibend. Wie Sendboten aus einem längst erloschenen Leben kommen sie ihr vor. Anna lässt sich auf einen Stuhl sinken. Sie kann ihren Blick nicht mehr wegnehmen von diesen Buchstaben, diesen Wörtern. Sie beginnt zu lesen und kann nicht aufhören, nicht einmal, als sie von unten Gretl immer lauter rufen hört.
7
Johannes kickte ungeduldig einen großen Kieselstein über den Hof der Stadtmühle. Dort, wo einstmals die Wagen mit den Getreide- und Mehlsäcken geschäftig auf und ab gefahren waren, streckte sich jetzt eine leere, graue Steinpflasterdecke vor ihm aus, die allerdings durchbrochen war von Grasbüscheln und dicken gelben Löwenzahnköpfen, die ihre spitzen Blätter überall hindurchzwängten. Nichts erinnerte mehr an das stattliche Anwesen, wo sich ein riesiges Mühlrad, angetrieben vom Grunbach, in fleißigem, stumpfem Rhythmus gedreht und zum Wohlstand der Stadtmüller beigetragen hatte.
Damit war es jäh vorbei gewesen, in einer Aprilnacht kurz vor Ende des vorigen Jahrhunderts. Die Ahne hatte Johannes immer wieder davon erzählt, wie die Feuerglocke die Grunbacher im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen hatte, und von allen Ecken der Ruf »Die Stadtmühle brennt!« ertönte. Viele waren mit Eimern bewaffnet herbeigelaufen, um zu helfen. Aber viel war nicht mehr zu machen gewesen. Als endlich der Feuerwehrwagen mit der großen Spritze ankam, brannten die Ställe, der Maschinenraum und der Mehlraum schon lichterloh. Wenigstens das Wohnhaus mit dem Kontor im Erdgeschoss konnte man retten und so blieb der Familie die Kasse und das Sparbuch erhalten. Und das war doch wenig genug, denn der Stadtmüller war zusammen mit seinem ältesten Sohn in den Flammen umgekommen. »Am nächsten Tag haben sie ihn unter den schwarzen Balken hervorgezogen«, erzählte die Ahne und senkte dabei ihre Stimme, als teile sie ein besonders schauriges Geheimnis mit, sodass es Johannes kalt über den Rücken lief. »Ich hab’s selber gesehen, denn damals war ich noch im Dienst und meine Herrschaft hatte mich angewiesen, der Stadtmüllerin zu helfen.« Ganz schwarz sei der Stadtmüller gewesen und merkwürdig verkrümmt und die Arme seien in die Höhe gestreckt gewesen, als habe er noch im Sterben den Himmel um Hilfe angefleht. Erst habe man ihn deshalb gar nicht in den Sarg legen können, aber da hätten die Leute dann einfach den Sargdeckel mit Gewalt hinuntergedrückt! Ansehen habe man ihn sowieso nicht mehr können und die ganze Zeit habe die Stadtmüllerin geschrien. Ihren Ältesten, den August, hatte man erst zwei Tage später gefunden und von ihm war noch weniger übrig geblieben als von seinem Vater.
Jetzt erinnerte nichts mehr an das Grauen dieser Aprilnacht. Die Mühle hatte man damals nicht wieder aufgebaut, denn so weit hatte das gerettete Geld nicht gereicht. Außerdem wollte die Stadtmüllerin weg, sie könne nicht mehr atmen an dem Ort, der zum Grab für ihren Mann und ihren Sohn geworden war. Das konnten die Leute verstehen und viele gute Wünsche hatten sie damals auf ihrem Weg zurück in ihren Heimatort begleitet. Etwas später hatte die Gemeinde das Wohnhaus übernommen, die von den Flammen angegriffene Westwand repariert und so war die Stadtmühle zum »Asyl geworden für die Mühseligen und Beladenen«, wie es der Herr Pfarrer salbungsvoll
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