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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Kinder der Armen.
    »Jetzt« war das sorgenvolle Erwachen in den Stunden des hereinbrechenden Tages, wo die Erinnerungen wieder greifbarer und lebendiger wurden, »jetzt«, das waren die zäh vorüberfließenden Tage, die neue Sorgen und Demütigungen mit sich bringen würden.
    Aber irgendwann ist es vorbei damit, schwor sich Friedrich mit zusammengebissenen Zähnen! Er packte entschlossen die Schuhe und ging leise hinüber in das Zimmer, wo die Mutter und die Geschwister schliefen. Wilhelm lag zusammengekrümmt auf dem Strohsack, den sich die Mutter mit ihm teilte. Er atmete rasselnd und seine Backen waren gerötet. Nach diesem ersten Winter in der Stadtmühle, wo das Wasser an den eiskalten Wänden herabgelaufen und der Wind durch alle Ritzen gedrungen war, fieberte Wilhelm ständig und ein trockener Husten schüttelte ihn. Auch die Mutter sah blass und ausgezehrt aus. Im Wäschekorb zu ihren Füßen schlummerte die kleine Emma. Friedrich betrachtete seine Familie eine Weile, zärtlich strich er Wilhelm das Haar aus der schweißnassen Stirn.
    »Und eines Tages bekommst du wieder ein Holzpferd«, flüsterte er. »Ein bunt lackiertes mit einer richtigen Mähne. Und ich baue euch ein Haus, ein großes, mit Heizung und Wasserklosett. Wir werden alle Tage genug zu essen haben und schöne Kleider und Schuhe. Schuhe aus weichem Leder und feste Stiefel für den Winter, Stiefel mit Fell, wie der Herr Dederer welche hat. Das verspreche ich euch. Heute an diesem Tag, an dem ich zum ersten Mal barfuß gehen muss, verspreche ich es. Nein, ich schwöre es!«

6
     
    Am nächsten Morgen wacht Anna mit Kopfschmerzen auf. Benommen bleibt sie eine Weile liegen und starrt auf das Fenster, durch das das helle Tageslicht strömt. Sie hat zu viel von dem Rotwein getrunken, den Richard auf Gretls Geheiß aus dem Keller geholt hat. Immer wieder hat die neue Verwandtschaft, deren Beziehung zu ihr immer noch unklar ist, das Glas erhoben und feierlich auf ihre »Heimkehr« getrunken.
    Heimkehr, denkt Anna spöttisch, es gibt doch gar kein Heim, nur das alte verrottete Häuschen am Waldrand. Richard hat versprochen, es in den nächsten Tagen mit ihr zu besichtigen. Es seien allerlei Fragen zu klären, was denn mit dem Haus geschehen solle. »Sobald ich mich vom Büro freimachen kann, zeige ich dir alles, Anna, aber ich fürchte, es ist nicht mehr viel zu machen.« Günstigerweise ist Richard Architekt. Er hat ein großes Büro hier im Ort. Der »Junge« würde auch mit dabei sein, der Sohn von Richard und Christine.
    »Er ist einige Jahre älter als du und studiert Architektur in Stuttgart. Extra wegen dir ist er diese Woche dageblieben, denn er ist sehr neugierig auf dich. Er ist nämlich mit den Gretl-Geschichten aufgewachsen und kennt deine Familie sehr gut«, hat ihr Christine noch gestern Abend bei der Verabschiedung erzählt.
    Da ist er wieder, dieser Stich ins Herz, denkt Anna, als sie sich an diese Bemerkung erinnert. Sie ist eifersüchtig auf diesen »Jungen« und auch neidisch. Er hat von Anfang an seinen Platz hier gehabt, seine Eltern, Gretl. Ist hier ganz selbstverständlich daheim, wo sie sich noch fremd fühlt und sich ihren Platz erst suchen muss. Trotzdem muss Anna auch schmunzeln. Jetzt weiß sie wenigstens, warum Gretl ihn immer nur konsequent den »Jungen« nennt. Seinen Namen will sie nicht aussprechen, weil es »so ein komischer französischer« ist, wie sie gestern Abend murrend gesagt hat. »Sowieso eine Schnapsidee, den Jungen so zu nennen.« Christine hat überhaupt nicht auf Gretls Einwurf reagiert, Richard allerdings musste herzlich lachen: »Wir haben ja auch einen französischen Einschlag in der Familie, vergiss das nicht!«
    Christine hat unwillig den Kopf geschüttelt: »Darüber macht man keine Witze!« Und dann hat sie sich erklärend an Anna gewandt. »Er heißt Frederic. Ich wollte unbedingt wieder einen Friedrich in der Familie haben und damals schien mir der Name einfach, nun ja, zu deutsch und zu bieder eben. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, ihn Frederic zu nennen. Und Richard fand das auch gut.« Sie schaute dabei betont strafend zu ihrem Mann hinüber, der sich immer noch amüsierte. »Heute bereue ich es irgendwie. Sie haben ihn natürlich alle Freddy gerufen. Schon im Kindergarten. Mein Sohn hat mir das bis heute nicht verziehen.«
    Klar, ein bisschen neugierig auf diesen Frederic ist Anna schon, aber besonders freundlich wird sie nicht zu ihm sein, nimmt sie sich vor. Tun ja alle so, als sei

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