Beerensommer
genannt hatte, zur »Unterkunft für die Armen und der Wohlfahrt Anheimfallenden des Dorfes«, so stand es im Gemeinderatsprotokoll; bei den Grunbachern aber hieß es nur kurz und bündig: »das Haus für das Lumpenpack«.
Wenigstens ist im Frühjahr und Sommer alles leichter zu ertragen, dachte Johannes bitter. Die Wände schwitzten nicht mehr vor Feuchtigkeit und Kälte und nachts fror man nicht mehr unter den zerschlissenen Decken. Wilde Blumen hatten sich ausgesät, die den kleinen kümmerlichen Vorgarten bedeckten, wo die Stadtmüllerin früher ihre Kräuter angebaut hatte. Selbst das windschiefe Aborthäuschen, das sich gegen die Hauswand lehnte, bekam durch den davor stehenden Fliederbusch einen freundlichen Anstrich.
Endlich hörte er das lang erwartete Gepolter an der Haustür. Guste kam als Erste herausgerannt, im Arm hielt sie ein großes Wolltuch, in das die Kleine eingewickelt war, die Gretl, ihr Augapfel, und in ihrem Gefolge schoben sich die Mühlbeck-Buben wie Orgelpfeifen aus dem dämmrigen Flur, Ludwig, der Älteste, dann Otto und schließlich der kleine Ernst, der mit seinen dünnen gekrümmten Beinchen immer tapfer mitzuhalten versuchte. Mühlbecks hatten ihren Kindern Namen von Kaisern und Helden gegeben, als ob sie sich so trotzig gegen die Armut und das häusliche Elend behaupten könnten. In Wirklichkeit aber wirkten diese stolzen Namen nur grotesk, wie zu dick aufgetragene Schminke. Die Kinder sahen müde und übernächtigt aus an diesem heiteren Sonntagmorgen.
Vater Mühlbeck war gestern auf unerklärliche Weise zu einigen Pfennigen gekommen und das Dorf munkelte davon, dass in der Nacht zum Samstag beim Wieser-Karl zwei Stallhasen gestohlen worden waren. Die Polizei hatte gestern Abend die Mühlbeck’sche Wohnung durchsucht. Aber sie hatten nichts gefunden außer ein paar verängstigten Kindern, die sich in ihren Betten verkrochen hatten, und einer heulenden Frau Mühlbeck, die auf die Frage nach ihrem Mann Zeter und Mordio schrie. Nein, Hasen oder Geld, keins von beiden sei da, und wenn sie ihren Mann suchten, sollten sie nur gleich in die Wirtschaften gehen. »Versaufen wird er’s, wie alles, und heut Nacht kommt er heim und schlägt alles kurz und klein. Nehmt ihn mit und sperrt ihn endlich ein. Ich geh sonst ins Wasser, ich ersäuf mich ...!«
Das Ganze endete in einem wüsten Tumult, denn die Kinder hatten sich bei diesen Worten auf die Mutter gestürzt und in das verzweifelte Geheul eingestimmt. Am Abend hatte sich eine bedrückte Stille über die Stadtmühle gesenkt. Man wartete, wie so oft, auf Ludwig Mühlbeck, denn die Tatsache, dass er wie auch immer zu Geld gelangt war, verhieß eine unruhige Nacht. Die Schwere seines Rausches bestimmte den Grad seiner Zerstörungswut – und tatsächlich hörte man nach Mitternacht außergewöhnlich lautes Gegröle. Das war das Signal für die Mühlbeck-Kinder. Guste, Ludwig und Otto sprangen behände aus den Fenstern, einige Decken unter den Arm geklemmt, um sich irgendwo im Schutz der Dunkelheit zu verkriechen. Die Nächte waren zwar noch kühl, aber alles war besser, als Opfer der Prügel und der sinnlosen Wut des Vaters zu werden. Der kleine Ernst hatte es sich angewöhnt, zu Johannes ins Bett zu kriechen, denn das Zimmer der alten Ahne betrat Ludwig Mühlbeck auch im größten Rausch nicht mehr, seit sie ihm einmal ein Holzscheit auf den Schädel gehauen hatte! Mutter Mühlbeck schlüpfte meist hinauf zu Lene, die ihre Tür mit einer alten Kommode verrammelte, in der Hoffnung, dass sie den Fußtritten des alten Mühlbeck standhielt. Auch das Zimmer der Weckerlins mied Ludwig Mühlbeck merkwürdigerweise, denn vor der Frau Weckerlin hatte er mächtigen Respekt, obwohl sie doch jetzt seinesgleichen war. Aber vielleicht sah er immer noch den ehrbaren Handwerksmeister Friedrich Weckerlin vor sich, den so viele im Dorf bewundert und geachtet hatten.
Gut eine Stunde hatte der Mühlbeck in der letzten Nacht getobt, die ohnehin kümmerliche Wohnungseinrichtung kurz und klein geschlagen, dann war er umgefallen wie ein Mehlsack und eingeschlafen. Auch heute Morgen noch drang das rasselnde Schnarchen durch die weit geöffneten Fenster des Zimmers, wo sich Frau Mühlbeck so leise wie möglich mühte, noch etwas heil Gebliebenes aus den Resten ihres zerstörten Hausrats zusammenzuklauben.
In der Frühe, nach dieser unruhigen Nacht, hatte Johannes beschlossen, zum Katzenbuckel zu gehen und die Mühlbeck-Kinder mitzunehmen, um sie herauszuholen
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