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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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aus ihrer häuslichen Misere. Wenn Ludwig Mühlbeck aus seinem Rausch erwachte, war er meistens zwar nicht mehr aggressiv, aber grenzenlos sentimental und drohte dann ständig damit, sich und die Seinen auf alle möglichen Arten umzubringen.
    Zusammen mit Guste holte Johannes einen großen Holzkorb aus dem Verschlag neben dem Aborthäuschen. Es gab zwar noch keine Beeren, aber er wollte auf der großen Auwiese am Katzenbuckel Kräuter sammeln. In der königlichen Stephani-Apotheke in Wildbad wurde er die zarten, frischen Löwenzahnblätter ohne Probleme los. Bestimmt gab es auch schon Wegerich und Huflattich. Der Doktor Stephani stellte daraus Tee her und verkaufte ihn an die Kurgäste, die schwer und beleibt waren vom guten Essen und vielen Trinken. Angepriesen als Wundermittel »mit den heilenden Kräften des Schwarzwalds« wurden diese Tees hingebungsvoll getrunken, damit man so Linderung von Gicht und Rheuma finden konnte.
    Immer wieder dachte Johannes daran, wie merkwürdig die Welt doch eingerichtet war, in der die einen, die mit hungrigen Mägen ins Bett gingen, denen die Medizin brachten, die daran erkrankt waren, dass sie von allem viel zu viel hatten.
    Aber jetzt schob er diese Gedanken beiseite und wartete. Er wartete, obwohl die Mühlbeck-Kinder schon ungeduldig mit den Füßen scharrten, denn es stand zu befürchten, dass gleich der Vater aufwachen würde. Friedrich hatte Johannes gestern Abend endlich versprochen mitzugehen! Mit zum Katzenbuckel, ihrem »Zauberort«, wie er ihn spöttisch nannte. Er hatte zögernd zugesagt, noch ein »vielleicht« in seine Antwort hineingeschoben, aber immerhin, er hatte nicht mehr den Kopf geschüttelt und abwehrend die Hand gehoben, als ihm Johannes dieses neuerliche Angebot gemacht hatte. Wahrscheinlich war es sein letzter Schutzwall, den er noch aufrechterhielt, um nicht zu »denen da« zu gehören, überlegte Johannes. Aber Stück für Stück war er doch zu einem der Ihren geworden, nach der Umsiedlung in die Stadtmühle immer mehr abgeglitten, hinunter zum Gesindel, für das er früher keinen Blick gehabt hatte.
    Im März hatte es ungewöhnlich starke Regenfälle gegeben, ein Umstand, den die Grunbacher so sehr fürchteten wie Waldbrand oder Hagel, denn der unaufhörlich prasselnde Regen wusch die steil gelegenen Kartoffeläcker an den Berghängen ab. Die kostbare Erde sammelte sich in der großen Furche am unteren Ackerende und musste dann mühselig wieder bergauf getragen werden, sonst gediehen die Kartoffeln nicht und es drohte ein harter und hungervoller Winter. Alle halfen mit, auch die Stadtmühlenkinder, obwohl es als Lohn nicht viel gab – die Ackerbesitzer waren selbst keine reichen Leute. Aber das Zwetschgengsälzbrot, das ihnen am Abend in die Hand gedrückt wurde, füllte mit seiner milden Süße weit angenehmer den Magen als die trockenen Kanten Kommissbrot und manchmal gab es als Dreingabe sogar eine Hand voll Kartoffeln von der letzten Ernte, die zwar alt und verschrumpelt waren, aber doch eine willkommene Zugabe auf dem kümmerlichen Speiseplan.
    Friedrich hatte damals im März zum ersten Mal mitgeholfen. Frau Weckerlin hatte ihn hinaufgeschickt, denn Großvater und Onkel hatten am Meistern, dem höchsten Berg in Grunbach, ein kleines Grundstück. So musste er unter dem Deckmantel der verwandtschaftlichen Beziehungen zum ersten Mal an dieser verhassten Arbeit teilnehmen. Frau Weckerlin versprach sich davon ein Körbchen Kartoffeln, entgegen aller Vernunft und Erfahrung, und träumte sogar noch von einem Glas eingewecktem Sauerkraut mit Speck. Das hatte sie Friedrich leise flüsternd anvertraut und ihm dabei auffordernd seine Jacke hingestreckt.
    Aber nachdem er stundenlang Körbe mit der nassen, lehmigen Erde den Berg hinaufgeschleppt hatte und mit den nackten Füßen im kalten Dreck gestanden hatte, beschied ihn seine Tante kurz und barsch, man danke und er habe recht getan, auch einmal an seine Verwandten zu denken, deren Not man früher nicht so richtig gesehen habe. Friedrichs Großvater hatte die Mütze weit hinters Ohr geschoben und sich verlegen am Kopf gekratzt. »Gib dem Jungen doch wenigstens ein Stück Brot und für die Kleinen ein, zwei Eier mit«, bat er mit leiser Stimme, »und dem da«, dabei deutete er auf Johannes, der mitgekommen war, um Friedrich zu helfen, »dem gibst du auch etwas.«
    Aber da ging’s erst richtig los! Friedrichs Tante begann so laut zu keifen, dass sich die Leute auf den Nachbaräckern erstaunt herumdrehten.

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