Beerensommer
lächelt Gretl versonnen. »Ja, die Guste, das war ein gutes Mädchen. Hat leider nichts vom Leben gehabt. Erst der besoffene Vater und später ...« Sie stockt und schaut plötzlich mit düsterem Blick auf das Tischtuch mit den eingestickten roten Blumen. Anna wartet gespannt, aber sie erfährt nichts von Gustes Schicksal. Stattdessen sagt Gretl abrupt: »Ja, ich bin auch dabei gewesen. Als ich laufen konnte, bin ich tapfer hinterhergewatschelt und bergauf haben sie mich oft in den leeren Korb gesetzt. Und wenn es beim Rückweg gar nicht mehr ging, haben mich der Johannes oder der Friedrich auf die Schultern genommen. Meine Mutter war froh, wenn ich aus dem Haus war. Hast ja jetzt einiges gelesen und kannst dir denken, warum.« Gretl lächelt, trotz allem. »Sie haben mir ein Becherchen um den Bauch gebunden und dann musste ich auch Beeren zupfen. Das ist das Erste, woran ich mich sehr gut erinnere. Den Geruch vom Wald und das Geräusch, wenn die Beeren in den leeren Becher kullerten. Manchmal, wenn wir viel zusammengebracht haben, sind der Johannes und der Friedrich mit uns zum Café Wirtz gegangen und jeder hat ein Zehnereis bekommen, auch ich, das war sozusagen mein Anteil, obwohl ich wenig genug beigetragen habe. Später ging es immer besser und ich habe auch richtiges Geld verdient. Aber das Eis, das war das Beste. So gut hat mir später nichts mehr geschmeckt.«
Gretls Lächeln wird stärker. Sie schaut hinaus aus dem Fenster. »Einmal möchte ich noch hinauf, auf den Katzenbuckel. Möchte alles noch einmal sehen und riechen. Schau, die Leute waren früher bettelarm. Nicht nur wir Stadtmühlenkinder mussten hinauf in den Wald gehen, fast alle Dorfkinder haben dort geschafft. Für viele war es ein wichtiges Zubrot und wir von der Stadtmühle haben tatsächlich vom Wald gelebt. Die Pfennige, die wir da verdient haben, waren lebensnotwendig. Wir haben uns nicht einmal getraut, von den Beeren selber zu essen, alles musste verkauft werden. Die Guste hat so fast die ganze Familie durchgebracht, wenn der Alte wieder einmal alles versoffen hatte. Deshalb hatte auch jeder seine geheimen Beerenplätze. Die wurden nicht verraten. Beim Pflücken haben wir nur geflüstert, damit uns ja keiner hören konnte. Der Johannes kannte sich am besten aus. Immer wieder hat er neue Plätze ausfindig gemacht, hat herausgefunden, wo besondere Kräuter wuchsen und wo das meiste Bruchholz lag. Aber am schönsten war der Katzenbuckel. Nicht nur weil es dort die besten Beeren gab, denn im Sommer brannte die Sonne förmlich auf den Hang, sondern weil er unser Zuhause war! Dort bin ich praktisch aufgewachsen.« Sie dreht sich plötzlich zu Anna um, die ihr ganz fasziniert zuhört und dabei das Marmeladenbrötchen, das sie immer noch in der Hand hält, fast vergessen hat.
»Vielleicht kann uns der Junge in den nächsten Tagen hinauffahren. Er hat’s mir jedenfalls versprochen. Ich möchte es dir so gerne zeigen.«
Anna überlegt kurz: Inwiefern kann ein Waldstück ein Zuhause sein? Aber ihr liegt noch eine andere Frage auf der Zunge. »Und da hat er gemalt, mein Uropa?« Irgendwie ist sie stolz auf diesen Urgroßvater. Das ist doch etwas Besonderes, so ein künstlerisch begabter Vorfahr. Blöderweise hat sie selbst nichts davon geerbt. In Kunst gehörte sie zu den ganz Schlechten. Nur im Aufsatzschreiben, da war sie gut. Eigentlich ist Schreiben ja auch eine Kunst, denkt sie. Mama war ebenfalls gut darin, wollte immer etwas mit Schreiben machen, vielleicht hat sich die Kunst bei uns einfach in eine andere Richtung umgepolt.
Gretl hat auf ihre Frage wieder nur genickt.
»Und die Bilder? Ist doch komisch, dass er die ganzen Bilder verbrannt hat. Ich meine, es müssen doch Unmengen davon da gewesen sein, wenn er schon als Kind so viel gemalt hat. Ich würde so gerne seine Bilder sehen!«
Da schaut Gretl wieder auf die Tischdecke und fährt mit den Fingern das Blumenmuster nach. Plötzlich erschrickt Anna. Ein Tropfen fällt auf die dürre Hand, über die sich die Haut wie altes Pergament spannt. Noch ein Tropfen fällt und zerfließt langsam über der Handfläche mit den dicken blauen Adern. Gretl weint. Betroffen schweigt Anna. Dauernd bringe ich sie mit meiner Fragerei zum Weinen!, denkt sie ganz zerknirscht.
Was hat es mit den Bildern nur auf sich? Sie wartet eine Weile und sieht noch mehr Tränentropfen zerfließen. Die Stille wird immer drückender und plötzlich spürt Anna, dass da etwas im Raum ist, etwas nicht Greifbares, aber
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