Beerensommer
es legt sich auf sie und schnürt ihr für einen Moment die Luft ab. Gespenster, denkt sie, die Gespenster der Vergangenheit sind da und ich hab sie heraufbeschworen. Sie ahnt auf einmal, dass da oben zwischen den vergilbten Blättern der Wachstuch-Kladden so manches auf sie wartet. Wie der Geist aus der Flasche, denkt Anna. Als Kind habe ich einmal in einem Film gesehen, wie ein Junge den Geist aus der Flasche befreit hat, aber der Geist war nur vordergründig gut und dankbar, in Wirklichkeit war er böse und beherrschte bald den Jungen, bis es dem durch eine List gelang, ihn wieder in die Flasche zu locken.
Da ist sie wieder, die Angst, denkt Anna, aber auch Neugierde. Was werde ich nur alles erfahren?
Auch Gretl scheint diese plötzliche Spannung zu spüren. Sie kramt umständlich ein Taschentuch aus ihrer Kittelschürze und sagt dann nach einer Weile: »Ein paar seiner Bilder sind ja noch da. Der Richard soll sie dir zeigen. Und im Übrigen, lies weiter. Johannes wird es dir bestimmt selber sagen.«
9
Verstohlen wanderte Friedrichs Blick nach oben zum Bild des Kaisers, das hinter dem Lehrerpult hing. Daneben war die Uhr angebracht, deren Zeiger sich in quälender Langsamkeit bewegten. Die Hitze lag brütend im Klassenzimmer, obwohl die Flügel der hohen Fenster weit offen standen. Es war der 10. Juli 1912. Die Köpfe der Fünftklässler beugten sich tief über die aufgeschlagenen Lesebücher. Nur noch wenige Tage bis zu den großen Ferien waren zu überwinden und sie verflossen viel zu zäh und langsam.
Friedrich seufzte leise. Sein Blick blieb an Oberlehrer Caspar hängen, der schräg auf dem Pult saß, ein Bein war aufgestützt, das andere baumelte lässig, einen regelmäßigen Takt schlagend, den er mit dem Lineal aufnahm und es rhythmisch auf das Pult schlug. Wenn einer der Lesenden sich verhaspelte oder falsch las, wurde aus den dumpfen Schlägen ein unregelmäßiges Stakkato und die Köpfe der Kinder tauchten für einen Moment ruckartig auf. Er hat auch keine große Lust mehr, dachte Friedrich mit grimmiger Freude. Hoffentlich kriegen wir die nächsten Tage noch einigermaßen herum, denn wenn er sich langweilt, denkt er sich bestimmt noch etwas Bösartiges aus.
Denn er war bösartig, kleinlich und brutal, der Herr Oberlehrer Caspar, der der fünften Klasse der Volksschule Grunbach vorstand. Wie so oft überlegte sich Friedrich, warum er so war. Er war böse, weil er so unzufrieden war. Wahrscheinlich möchte er Professor oder so etwas Ähnliches sein und denkt, er hätte etwas Besseres verdient als eine Volksschullehrerstelle in einem kleinen Schwarzwalddorf, überlegte der Junge.
Die Leute erzählten sich, dass er in seiner freien Zeit durch die umliegenden Dörfer streife und merkwürdige Dinge tue. Er vermesse die Köpfe der Menschen und stelle ihnen seltsame Fragen nach ihren Eltern und Großeltern. Auch die Köpfe der Fünftklässler hatte er schon gemessen und Zeichnungen angefertigt und dabei etwas von seinen Forschungen erzählt und von der Bedeutung der Rasse für die Zukunft des Volkes. Stumpf hatten die Kinder diese Prozeduren und das Gefasel über sich ergehen lassen, ohne recht zu verstehen, was er da tat. Aber wer wollte schon den Herrn Oberlehrer fragen oder ihm gar widersprechen?
Sein Sohn Richard, ein rötlich blonder und geduckter Junge, war bis Ostern in dieselbe Klasse gegangen. Jetzt besuchte er zusammen mit den anderen aus den hinteren Bänken das Gymnasium in Wildbad. In der guten Zeit der Weckerlins vor jener Septembernacht schien der Herr Oberlehrer Caspar durchaus daran interessiert, dass sich zwischen seinem Sohn und Friedrich eine Freundschaft ergeben sollte. Schließlich war der Handwerksmeister Friedrich Weckerlin in seinen besten Tagen sogar als künftiger Gemeinderat gehandelt worden. Friedrich hatte Richard Caspar pflichtschuldigst auch einige Male eingeladen, nachdem ihn der Vater dazu aufgefordert hatte: »Der Herr Oberlehrer würdees gerne sehen.« Aber so richtig warm geworden war er mit dem mürrischen, duckmäuserischen Jungen nicht. Wahrscheinlich prügelt er nicht nur die Schulkinder, sondern auch seinen eigenen Sohn, hatte Friedrich damals gedacht und sich dabei überlegt, dass er alles Lebendige und alle eigenen Gedanken wohl aus dem Jungen herausgeprügelt hatte.
»Zucht« war neben »Rasse« sein zweites Lieblingswort, Zucht musste herrschen, in der Familie, in der Schule, im ganzen Land, denn »eine Nation, die nicht auf Zucht hält, ist verloren«.
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