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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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zurück und Friedrich war bewusst, dass er, Friedrich Weckerlin, ihn lächerlich gemacht hatte, so würde Caspar es jedenfalls auffassen.
    Er denkt sich etwas aus, überlegte der Junge beklommen, dessen Triumphgefühl rasch verflogen war, jetzt denkt er sich etwas aus! Hoffentlich lässt er die anderen nicht darunter leiden.
    Aber die Katastrophe nahm ihren Lauf! Nach der Episode mit Friedrich gab es in der Klasse nicht mehr diese stumme, fast atemlose Konzentration auf den Lesetext, zwar beugten sich die blonden, braunen und schwarzen Köpfe wieder brav über die Bücher, aber es war merklich unruhiger geworden. Füße scharrten, Bänke knarrten und viele Blicke schweiften immer wieder hinauf zur Uhr mit den langsam kriechenden Zeigern.
    Plötzlich stand Caspar auf und brüllte: »Aufgestanden!«, und mit lautem Poltern fuhren die Kinder aus ihren Bänken hoch und nahmen neben den Pulten Aufstellung. Caspar marschierte langsam mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch die Reihen, wie ein Feldherr, der die Parade abnahm, dann blieb er abrupt stehen und sagte mit gefährlich leiser Stimme: »Wir haben gerade vom Vater Rhein gelesen, unserem Schicksalsfluss. Und wir haben von Köln gehört, der größten Stadt am Rhein. Jeder von euch wird mir jetzt ins Ohr sagen, wie viele Einwohner Köln hat. Wer es nicht weiß, bekommt eine Tatze.«
    Friedrich blieb fast die Luft weg. Das war ja reine Schikane! Noch nie hatten sie im Unterricht über die Einwohnerzahl von Köln gesprochen. Und auch im Lesestück war nicht davon die Rede gewesen. Reine Schikane war das, nichts anderes ...
    Aber unerbittlich begann Caspar seinen Streifzug durch die Klasse. Er blieb vor jedem Einzelnen stehen, ein Unheil verkündendes »Also?« erklang und er beugte den Kopf tief vor das Gesicht des jeweiligen Schülers. Dann folgte die immer gleiche Szene – ein Kopfschütteln, entweder heftig oder nur angedeutet, je nach Temperament und Gemütslage des einzelnen Schülers, und dann kam sofort die Strafe, die Hand musste hochgehoben werden und der Rohrstock sauste pfeifend nieder. Und Caspar schlug kräftig zu, das konnte Friedrich an den schmerzverzerrten Gesichtern und den fahrigen Bewegungen erkennen, mit denen die Betroffenen die Hand in Hemd oder Kleid wühlten, als könnte man so den Schmerz betäuben. Einigen liefen die Tränen die Wangen hinunter, aber man hörte keinen Laut, denn das würde Caspar noch mehr in Rage bringen.
    Der Rohrstock kam näher, immer näher, das Pfeifen dröhnte geradezu in Friedrichs Ohren. Auch Johannes kassierte seine Tatze, allerdings ohne mit der Wimper zu zucken. Friedrich knirschte mit den Zähnen. Caspar hatte bei allen die linke Hand gewählt, weil er wusste, dass die meisten Kinder vor allem jetzt in den bevorstehenden Sommerferien mithelfen mussten. Er wollte Klagen der Eltern vermeiden, wenn die Hand geschwollen war oder aufriss und blutete, denn das kam häufig vor. Aber Johannes war Linkshänder; und sie mussten doch Beeren pflücken in den nächsten Wochen, es war Heidelbeerzeit, Himbeerzeit, die ertragreichste Zeit des Jahres. Und Holz mussten sie sammeln, aber das Schlimmste war, dass Johannes vielleicht nicht mehr malen konnte in den nächsten Tagen.
    Plötzlich stand Caspar neben ihm, ein riesiger Schatten im schwarzen Gehrock und untadelig gestärkten weißen Hemd, über dessen Kragen rote Hautfalten quollen. Der Goldkneifer saß wie immer perfekt auf der Nase und ein stechender Blick traf ihn. Dann beugte er sich vor, dass Friedrich seinen Atem riechen konnte, und er hörte dieses gefürchtete »Also?« an seinem Ohr. Caspar wartete genießerisch noch ein wenig ab, bis er die Strafe an diesem irregeleiteten Zögling, dem Bankrotteurssohn, vollziehen würde.
    Aber dann sagte Friedrich wie aus der Pistole geschossen: »630.000!« Er brüllte es geradezu in das ihm hingestreckte Ohr und Caspar fuhr zurück. Friedrich erschrak. Was tat er da? Ohne richtig nachzudenken, hatte er einfach eine Zahl genannt, irgendeine. Eine Tatze bekam er sowieso. Aber er wollte nicht kampflos die Strafe hinnehmen.
    Vielleicht bekam er jetzt sogar richtige Prügel, musste sich über die Bank legen? Alles, nur das nicht! Mehr als die Schläge schmerzte die Demütigung.
    Es war totenstill in der Klasse. Die anderen starrten mit weit aufgerissenen Augen hinüber zu Friedrich und Caspar, die immer noch dicht voreinander standen.
    Dann geschah jedoch etwas völlig Unerwartetes! Caspar drehte sich auf dem Absatz um und

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