Beerensommer
war oder Kummer hatte.«
Gretl kramt in der Tasche ihrer schwarzen Kostümjacke und zerrt ein blau-weiß kariertes Taschentuch hervor, mit dem sie sich energisch über die Augen wischt. Überhaupt hat sie sich richtig fein gemacht, wie Anna jetzt erst überrascht feststellt. Schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse mit Spitzenkragen. Mitten in ihre Gedanken hinein hört sie Gretl sagen: »Und als ich dann in die Schule kam, haben die Kinder immer hinter mir hergebrüllt und ich habe gar nicht verstanden, was sie meinen. Aber ich hab’s dem Friedrich erzählt und der ist fuchsteufelswild geworden. Obwohl er schon beim Dederer gearbeitet hat, konnte er es einrichten, dass er einige Male am Morgen mit mir zur Schule gegangen ist. ›Jetzt sagst du mir, wer dir das Schimpfwort nachschreit, damit ich ihn nach der Schule verdresche!‹, hat er so laut über den Schulhof geschrien, dass es jeder gehört hat. Und es hat gewirkt. Von da an hatte ich Ruhe, obwohl keines der Mädchen mit mir spielen durfte.«
»Und welches Wort haben sie dir nachgerufen?«, fragt Anna unbedacht und hätte sich im gleichen Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie nur so blöd sein! Zu allem Überfluss stubst sie Fritz, der sich neben sie ins Gras gesetzt hat, kräftig gegen das Bein. Aber Gretl scheint die Frage nicht weiter krumm zu nehmen. »Ja, was wohl! ›Hurenkind‹, haben sie gerufen, ›Hurenkind‹, immer wieder. ›Deine Mutter ist eine Hur’!‹ Und ich hab erst gar nicht gewusst, was das ist. Später habe ich mich für meine Mutter geschämt. Einmal, ich war in der zweiten Klasse, hat mich ein Mädchen eingeladen, ein ganz liebes mit langen Zöpfen. Sie hat im Unterdorf gewohnt und kam auch aus ganz einfachen Verhältnissen. Ich war so stolz! Als mich ihre Mutter gefragt hat, aus welcher Familie ich komme, da habe ich gelogen. Ich sei eine von den Kiefers, habe ich gesagt, das war eine weit verzweigte Verwandtschaft. Später hat sie natürlich herausgekriegt, wo ich herkomme, und dann durfte mich die Liesl nie mehr einladen. Sie durfte nicht einmal mehr mit mir sprechen.«
Gretl schnäuzt sich wieder und ihr Blick verschwimmt hinter den Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten kann. Aber dann fährt sie energisch, fast trotzig fort: »Kurz vor meiner Konfirmation habe ich dann meine Mutter gefragt. Das mit den Männern, den ›Kavalieren‹, habe ich ja noch mitbekommen, ohne mir recht etwas dabei zu denken. Es wurden immer weniger, vor allem während des Krieges, und irgendwann hat es ganz aufgehört, als ich so ungefähr acht Jahre alt war. Mutter wurde kränklich und sah auch verbraucht und alt aus. Sie hat dann die Putz- und Wäschestellen der Ahne übernommen, zum Teil zumindest, denn einige Grunbacher Familien wollten sie nicht haben, auch wenn ...«, jetzt lächelt Gretl verschmitzt, »einige der Hausherren sie sicher besser gekannt haben, als es ihren Frauen lieb war. Es war eine schlimme Zeit, obwohl ich froh war, dass die Männer nicht mehr kamen. Aber vielen Grunbachern ging es in dieser Zeit schlecht. Kurz nach meiner Konfirmation hat uns dann der Friedrich geholt, zu sich ins Haus, er war ja drauf und dran, ein reicher Mann zu werden.«
Sie sinnt einen Moment über diese letzten Worte nach, als gäbe es da noch viel mehr zu sagen, schüttelt aber schließlich den Kopf.
»Ach, das wollte ich ja alles gar nicht sagen. Also, ich habe Mutter offen gefragt und sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Sie war im Dienst, in Stuttgart, wie so viele Mädchen hier aus dem Schwarzwald. Es war nicht schön, hat sie gesagt. Nicht genug zu essen, karger Lohn und von morgens bis abends arbeiten. Aber auf ihrer dritten Stelle war es am schlimmsten. Eines Nachts kam der Dienstherr zu ihr ins Bett, er hat gemeint, dass er sie bezahlt, und da sei auch ›das‹ inbegriffen. Einige Male ging es so, sie hat sich gewehrt und geheult, und als sie sich gar nicht mehr zu helfen wusste, hat sie gedroht, dass sie es seiner Frau sagt und ihn anzeigt. Nun ja, wer hätte ihr schon geglaubt, immerhin war er ein höherer Beamter. Aber vor seiner Frau hat er doch Respekt gehabt und so hat er eines Abends, als Mutter Ausgang hatte, einige Schmuckstücke seiner Frau zwischen die Wäsche meiner Mutter gestopft. Dann hat er ein großes Geschrei gemacht und sie ›überführt‹, wie er es nannte. Sie ist mit Schimpf und Schande aus dem Haus verwiesen worden. Weil sie gar nicht mehr wusste, wohin, hat sie versucht bei der Grunbacher
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